Vorbemerkung:
Am 11.4.2000 hat der Aachener NAK-Diakon, Privatdozent und seit kurzem Mitarbeiter bei dem Verlag Friedrich Bischoff, Dr. Reinhard Kiefer, im KOMM-Zentrum (Dueren) einen Vortrag "Was glauben neuapostolische Christen" abgehalten. Den vollstaendigen Text koennt Ihr hier finden, ist aber auch unten (mit einem Kommentar von Rudi Stiegelmeyr, wofuer ich ihn herzlich danke,) zu lesen...

Was glauben neuapostolische Christen?

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde,

heute Abend will ich zu Ihnen ueber den neuapostolischen Glauben sprechen. Natuerlich kann ich ihn an dieser Stelle nicht in seiner Gaenze darstellen, ich muss mich von daher auf wesentliche Aspekte beschraenken. Wenn man vom neuapostolischen Glauben spricht, dann darf darunter nicht etwas verstanden werden, das vom allgemein Christlichen getrennt waere. Es handelt sich hierbei nicht um einen christlichen Sonderglauben, sondern im Gegenteil, um einen Glauben, der sich auf das Zentrum des Christlichen bezieht. Trotzdem gibt es nicht uebersehbare Unterschiede zwischen dem neuapostolischen Glauben und dem der anderen Christen. Allein um diese Unterschiede soll es uns heute Abend zu tun sein. Im folgenden sollten drei wesentliche Unterscheidungsmerkmale zur Sprache kommen:

1. Das Apostelamt
2. Die Wiederkunft Christi
3. Das Entschlafenenwesen

Das Apostelamt

Ist es nicht auffaellig, dass sich eine Kirche mit dem Eigenschaftswort neuapostolisch versieht? Das Adjektiv "apostolisch" kennen die meisten. Es erscheint beispielsweise im "Apostolischen Glaubensbekenntnis" und in der in ihm enthaltenen Formulierung: "ich glaube an eine heilige allgemeine und apostolische Kirche". Das Eigenschaftswort "apostolisch" besagt in "der Alten Kirche, dass Schriften, Personen oder Einrichtungen von den Aposteln Jesu Christi verfasst, eingesetzt [...] oder begruendet wurden." Wir sehen also, dass hier vor allem das historische Moment betont wird. Unter den Aposteln Jesu werden dann vor allem jene Maenner verstanden, die mit dem Gottmenschen persoenlichen Umgang pflegten. Durch den Zusatz "neu" erhaelt "apostolisch" freilich noch einen ganz anderen Akzent, denn nun wird Apostolizitaet nicht allein in der Geschichte aufgesucht, sondern sie wird zum Ereignis in der Gegenwart. Um es noch deutlicher zu sagen: Die Apostel werden nun nicht allein als historische Gestalten aufgefasst, die unsere besondere Wertschaetzung geniessen, vielmehr wird ausgesagt, dass Apostel Jesu unter uns gegenwaertig leben und wirken, und dass sie die lebenden Garanten der Apostolizitaet der Kirche sind.

Bemerkung:
Mit welcher Rechtfertigung oder welchem historisch-kritischen Beweis, im Gegensatz zur bereits mehr als zweifelhaften Historizitaet der "Apostelgeschichte", die sich vom Ursprung her noch auf eine angeblich direkte Sendung beruft, wird die Benennung "neu" begruendet?

An dieser Stelle muss gefragt werden, was sind denn eigentlich Apostel? Freilich ist hier nicht der Ort, der Entwicklung des Apostelbegriffes im einzelnen nachzugehen. Wir muessen uns mit einer Charakter-Skizze begnuegen, in der gleichsam die Substanz des Apostelamtes zur Sprache kommt.
Das griechische Wort apostolos bedeutet Gesandter. Im Spaetjudentum entwickelte sich das saekulare "Rechtsinstitut des bevollmaechtigten Vertreters", in dem der Gesandte einer Person wie diese selber angesehen und aufgenommen wurde.

Bemerkung:
Die griechische Uebersetzung "apostolos" fuer den hebraeischen "Juenger-Begriff" (im Sinn von Nachfolger), welchen Jesus gebrauchte, ist aufgrund einer Bedeutungsverschiebung faelschlicherweise mit dem griechischen Terminus gleichgesetzt worden, weshalb die Uebersetzung "Gesandter" zumindest sehr unwahrscheinlich ist. (Siehe Anhang)

Wie kaum ein anderer hat der daenische Philosoph und Theologe Soeren Kierkegaard, der von 1813 bis 1855 lebte, in seiner 1847 verfassten Abhandlung "Ueber den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel", die Besonderheit des Apostels zu fassen vermocht. Um zu verstehen, was damals und heute Apostel bedeutet, braucht man eigentlich nur Kierkegaards Gedankengang zu folgen.
Zunaechst kommt der daenische Philosoph darauf zu sprechen, wie jemand zum Apostel wird. Er schreibt: "Ein Apostel wird nicht geboren; ein Apostel ist ein Mann, der von Gott berufen und bestellt wird, von ihm mit einem Auftrag ausgesandt wird."

Bemerkung:
Diese Aussage schliesst jegliche menschliche Mittlerschaft bei der "Amtsvergabe" bereits aus. Gerade diese rein menschliche Mittlerschaft, einschliesslich eines Treue-Eids ebenfalls auf einen Menschen (Stammapostel), aber zeugt von menschlichen Auswahl- und Willkuerkriterien, die eine goettliche Berufung im biblischen Sinne (siehe z.B. die Berufung Davids zum Koenig ueber Israel) ad absurdum fuehren.

Aeusserlich betrachtet, so betont Kierkegaard, unterscheidet sich der Apostel gar nicht von anderen Menschen. "Er wird durch diese Berufung kein besserer Kopf, er empfaengt nicht mehr Phantasie, nicht groesseren Scharfsinn [...]." Wenn das so ist, was zeichnet denn den Apostel dann von anderen Menschen aus? Die Antwort, die Kierkegaard uns gibt ist denkbar einfach: "[...] ein Apostel ist, was er ist, dadurch dass er goettliche Autoritaet hat." Das bedeutet im konkreten Fall: "Ich soll nicht auf Paulus hoeren, weil er geistreich oder sogar aussergewoehnlich geistreich ist, sondern ich soll mich unter Paulus beugen, weil er goettliche Autoritaet hat [...]." Der Begriff Autoritaet ist heute in Misskredit geraten, zumal er immer wieder mit autoritaer gleichgesetzt wird. Autoritaer ist die Autoritaet der Apostel schon deshalb nicht, weil sie nicht auf den Faehigkeiten oder Begabungen des betreffenden beruht, sondern allein auf dem Ruf Gottes, der sich Maenner zu diesem Amt erwaehlt. Autoritaet haben die Apostel im Sinne Kierkegaards, weil in ihrer Predigt der Ruf Gottes vernehmbar wird, der unweigerlich in die Entscheidung, in das Ja oder Nein stellt. Und wie kann derjenige, der Apostel zu sein behauptet, beweisen, dass er es auch wirklich ist und dass aus seinen Worten wahrhaftig der unbedingte Ruf Gottes zu vernehmen ist? Kierkegaard lehnt jede objektivierende Beweisfuehrung ab: "Koennte er es sinnenhaft beweisen, so waere er gerade kein Apostel", schreibt er und faehrt fort: "Ein Apostel hat keinen anderen Beweis als seine eigene Aussage, und hoechstens seine Bereitschaft, um dieser Aussage willen alles mit Freuden leiden zu wollen."

Bemerkung:
Dies ist nicht nur unlogisch sondern widerspruechlich, denn gerade die Vernehmbarkeit des Rufes Gottes, in ihrer inhaerenten Entscheidungshaftigkeit, ist deutliches Merkmal Kierkegaardischer Apostolizitaet. Sie muss es auch sein, denn welch anderes sicheres Erkennungsmerkmal ist den Glaeubigen gegeben, ausser das goettliche Bekennen zu menschlichen (Amts-)Handlungen. Auf keinen Fall sollte es sich um eine Selbstlegitimation handeln nach dem Muster: "Wir sind Apostel, weil wir dazu berufen, auserwaehlt und in dieses Amt gesetzt wurden"!

Insofern ist die ihm von Gott "mitgeteilte Lehre", um nochmals mit Kierkegaard zu sprechen, "nicht eine Aufgabe, ueber die er nachgruebeln soll, sie ist ihm nicht gegeben um seinetwillen, er hat im Gegenteil einen Auftrag auszufuehren und hat die Lehre zu verkuendigen und hat die Autoritaet zu gebrauchen."
Es ist schon erstaunlich, dass einer der bedeutendsten Denker des neunzehnten Jahrhunderts just zu jenem Zeitpunkt ueber den Apostel nachdenkt, da das Apostelamt in England wieder besetzt wurde und seine Wirksamkeit entfaltete. Kierkegaard empfand, das kann man seinem Aufsatz leicht entnehmen, den Apostel eben nicht als Figur der Kirchengeschichte. Auch wenn vor dem Horizont seines Denkens die neuen Apostel noch nicht erschienen, sind sie doch moeglich. Kierkegaard reflektiert nicht ueber historische Figuren, sondern ueber gegenwaertige Problemlagen.
Die Apostel, die seit 1832 taetig sind, haben eben jene goettliche Autoritaet, die durch keine historische Beweisfuehrung abgesichert ist.

Bemerkung:
Es geht hier nicht um eine historische Beweisfuehrung, die allemal nicht zu erbringen waere, sondern um die Beweisfuehrung erlebbarer Apostolizitaet im Sinne einer Weiterfuehrung urchristlicher Erfahrungen. So wie es keinen diesbezueglich faktischen Nachweis einer apostolischen Kontinuitaet in der katholischen Kirche gibt, gibt es auch keinen in der neuapostolischen Kirche, schon gar nicht, da noch nicht einmal bezuegliche der apostolischen Merkmale mit den selbsternannten und ebenfalls jeglichen faktischen Kontinuitaetsbeweis schuldig gebliebenen englischen Aposteln von 1832 Kontinuitaet gegeben ist.

Sie fordern jenen Glauben, der auf die Absicherung durch Objektivierung bewusst verzichtet. Zu ihrer Autoritaet gehoert die Verkuendigung der rechten Lehre, insofern sind sie nicht von einer wissenschaftlichen Theologenschaft abgaengig, sondern bedienen ich ihrer bestenfalls.

Bemerkung:
Wer aber befindet ueber die Rechtmaessigkeit der Lehre, wenn die empirischen Faktoren selbst als Beweis fehlen?
Vor dem Hintergrund der Menschheits- und Religionsgeschichte erscheint zudem eine wissenschaftliche Abhaengigkeit einer glaubensmaessigen allemal vorzuziehen sein, legte doch Jesus selbst groessten Wert auf eine ueberzeugte und damit muendige Anhaengerschaft, ganz im Gegensatz zur glaubensorientiert hoerigen der damaligen Geistlichkeit.

Daneben gehoert zum Komplex goettlicher Autoritaet die Aufrichtung der rechten Kirchenordnung, die sachgemaesse Sakramentsverwaltung, die Vollmacht Suenden zu vergeben und schliesslich, und damit kommen wir auf den zweiten wesentlichen Punkt des neuapostolischen Glaubens zu sprechen, die baldige Wiederkunft Christi nicht nur zu verkuenden, sondern auch auf sie vorzubereiten.

Bemerkung:
Es stellt sich unweigerlich die Frage, inwieweit die neuapostolische Kirche konkret Verkuendigung und Vorbereitung hinsichtlich der Wiederkunft Christi im Vergleich zu anderen Kirchen theologisch wie faktisch unterscheidet? Allein die Tatsache, dass seit nunmehr fast 200 Jahren gebetsmuehlenhaft auf eine angeblich unmittelbar bevorstehende Wiederkunft Jesu hingewiesen wird, hat mit wirklicher Vorbereitung so viel zu tun, wie das blosse Anhoeren eines Vortrags, ohne dessen Aussagen zu ueberpruefen und gegebenenfalls in geistiger Uebernahme praktisch anzuwenden, damit sein Inhalt eigener Besitz wird.

2. Die Wiederkunft Christi

Der urchristliche Hoffnung, dass Jesus Christus nicht nur Mensch geworden ist, dass er nicht nur in den Himmel gefahren ist, sondern dass er ebenso wiederkommen wird, spielt in der Verkuendigung vieler christlicher Kirchen keine oder nur eine nebensaechliche Rolle. Das Bewusstsein des grundsaetzlich eschatologischen - also endzeitlichen - Charakters der urchristlichen Christusbotschaft ging im Laufe der Jahrhunderte mehr und mehr verloren.

Bemerkung:
Die Eschatologie wurde weder von Jesus noch von den der Mehrzahl der Urapostel gepredigt. Die jesuanische Basileia hatte "Gegenwartscharakter" fuer die damaligen Urchristen der ersten Haelfte des ersten Jahrhunderts. Eine andere Vorstellung gab es nicht, d.h., es kann somit auch keine verloren gehen. Die Eschatologie entwickelte sich aus verschiedenen Interpretationsversuchen verschiedener urchristlicher Denkrichtungen der zweiten und dritten Generation, welche das Ausbleiben der immanenten Reichsgotteshoffnung mit hellenistischen (vor allem gnostischen) Vorstellungen zu vermengen suchten, um damit ihre Glaubensgrundlage und die Legitimation ihres Glaubens nach aussen nicht zu verlieren. Aus einem Teil jener Vorstellungen, die letztendlich in der sog. Johannes-Offenbarung ihren mystischen Niederschlag fanden, schoepfte die sich langsam etablierende Institution "Kirche" ihre rechtliche Begruendung. Dieser Teil des eschatologischen Ausblicks ging in keiner der christlichen Kirchen verloren, wurde er doch als Letztbegruendung aller Glaubensdogmen am dringlichsten gebraucht. Was im gerade vergangenen 20. Jh. immer mehr verloren ging, war lediglich der blinde Glaube an eben diese eschatologische Letztbegruendung, zuerst in theolog. Kreisen und dann immer mehr im Glaubensfussvolk. Warum ging er verloren? Weil durch die ungeheuerliche Erkenntniszunahme durch zahlreiche wissenschaftlichen Forschungsergebnisse immer eindeutiger wurde, dass die Christusbotschaft eben keinen endzeitlichen Charakter besitzen konnte, sondern dieser erst im Nachhinein aus kirchenpolitischen und anderen Gruenden hineininterpretiert worden war.

Das Gekommensein des Erloesers verdeckte die Botschaft seines Wiederkommens. Das Verdecken der Wiederkunftsbotschaft haengt zweifelsohne damit zusammen, dass sie bislang nicht in Erfuellung ging. Die Spannung, in die die christliche Existenz durch sie gestellt wird, mochte auf die Laenge der Zeit kaum auszuhalten gewesen sein. Erst im neunzehnten Jahrhundert ‚entdeckte' man diesen Aspekt des Evangeliums neu. Vor allem in den verschiedenen Erweckungsbewegungen, die seit Anfang des neunzehnten Jahrhunderts aufkamen, wurde die Sehnsucht nach der baldigen Wiederkunft Christi zum wesentlichen Grund fuer Busse und Umkehr. Hier hat auch die Neuapostolische Kirche ihren historischen Ort, nur dass sich innerhalb der apostolischen Bewegung die Botschaft der Wiederkunft Christi untrennbar mit dem Apostelamt verband. Diese Verbindung hat sich denn auch als sehr fruchtbar erwiesen, da die Apostel in die Mitte ihrer Verkuendigung, hier voellig dem urchristlichen Vorbild entsprechend, die Botschaft von der Wiederkunft Christi stellten und stellen. Die Betonung der unverbruechlichen Zugehoerigkeit der Wiederkunftshoffnung zum Evangelium hat sich um so notwendiger erwiesen, als gerade in der neueren Theologie nicht wenige Stimmen vorhanden sind, die den voelligen Verzicht auf die Wiederkunftshoffnung fordern. So rechnet etwa der bedeutende evangelische Theologe Rudolf Bultmann die Wiederkunft Christi neben den Abstieg Christi ins Reich der Toten und der Himmelfahrt zu jenen mythologischen Vorstellungen, die fuer den modernen Menschen erledigt sind. Freilich verabsolutiert eine solche Position, indem sie die Vorstellung eines real in der Geschichte handelnden Gottes aufgibt, das Diesseitige zum einzigen Bezugspunkt menschlichen Lebens und menschlicher Geschichte.

Bemerkung:
Diese krasse Verkuerzung des Bultmann´schen theologischen Ansatzes ist kennzeichnend fuer das neuapostolischen Elitedenken, das andere Meinungen, geschweige denn wissenschaftliche Erkenntnisse, nur insoweit zur Kenntnis nimmt, als sich daraus Legitimation und Rechtfertigung fuer die eigene Vorstellungswelt ableiten lassen. So wenig sie es jemals verstanden hat, Jesu Aussagen im Sitz und Umfeld seiner damaligen Kultur und den damaligen sozialpolitischen Notwendigkeiten zu sehen, so wenig kann sie heute die Theologie Bultmanns im Umfeld der religionswissenschaftlichen Forschungen und theologischen Notwendigkeiten wahrnehmen.

Dagegen setzt der neuapostolische Glaube die Gewissheit, dass die Herrschaft Jesu, die mit seiner Auferstehung verborgen begonnen hat, im Augenblick seiner Wiederkunft fuer alle offenbar wird. Insofern ist die Wiederkunft Christi auch kein schreckliches Ereignis, sondern vielmehr eines, dem der neuapostolische Christ mit grosser Freude entgegensieht. Das Ereignis der Wiederkunft Christi ist eingebettet in eine Reihe von Geschehnissen. Sie sollen wenigsten noch kurz genannt werden:
Zunaechst ist hier die Erste Auferstehung und die Entrueckung derjenigen zu nennen, die dem Ruf Christi gefolgt sind und sich von den Aposteln in Wort und Sakrament entsprechend haben ausruesten lassen. Daraufhin folgt die himmlische Vereinigung von Christus und diesen Menschen, den Lebenden und den Toten, die mit dem Begriff "Hochzeit des Lammes" umschrieben wird. Die sichtbare Wiederkehr Christi auf Erden geschieht im Kreise derjenigen, die an der Ersten Auferstehung teilnehmen durften. Mit ihr kommt der gewoehnliche Weltlauf endgueltig zu seinem Abschluss. Die Erde erfaehrt eine grundlegende Verwandlung, sie wird nun zum Ort, an dem ein neues Sein mit Gott moeglich wird. Daran nun sind nicht nur diejenigen beteiligt, die an der Ersten Auferstehung teilnahmen, sondern alle auf Erden Lebenden. Dies ist das Tausendjaehrige Friedensreich, von dem die Johannes-Offenbarung (Off 20: 1-6) spricht. Danach erst geschieht das Juengste Gericht, in dem , wie es im neuapostolischen Glaubensbekenntnis heisst, dass "alle Seelen, ihr Teil empfangen, wie sie gehandelt haben, es sei gut oder boese." Christus ist dann der Richter der "Lebenden und der Toten". "[Das heisst im uebrigen auch", wie Joseph Ratzinger in seinen "Vorlesungen ueber das Apostolische Glaubensbekenntnis" bemerkt, "dass niemand sonst als Er im letzten zu richten hat. Damit ist gesagt, dass das Unrecht der Welt nicht das letzte Wort behaelt [...]." Daran endlich schliesst sich die neue Schoepfung an, durch die die Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott durch nichts mehr aufgehoben werden kann.

Bemerkung:
Wie sehr allein schon die biblische Begruendbarkeit bezueglich dieser geschilderten Geschehnisse hinkt, habe ich schon einmal erlaeutert (siehe Anhang), dass aber unbesehen all dieser Ungereimtheiten diese Auffassung seitens der neuapostolischen Kirche nur eine von vielen (moeglichen wie unmoeglichen) Interpretationsmustern ist, sollte zumindest den Glaeubigen gegenueber Erwaehnung finden. Diese Unterlassung zeugt mehr von dogmatischer Engstirnigkeit und kirchenpolitischem Interesse als von wahrer Glaubensueberzeugung derer, die solche Lehren installieren.

Die Gottesherrschaft, die in der neuen Schoepfung anbricht, zeigt sich in verschiedener Hinsicht schon jetzt. Sie zeigt sich der in machtvollen Gegenwart des Apostelamtes, in der Gemeinschaft der Christen, in Wort und Sakrament.

Bemerkung:
Auch hier bleibt der Verfasser den Beweis der machtvollen Gegenwart des Apostelamtes einmal mehr schuldig. Weder die Tatsache, dass die neuapostolische Kirche nach wie vor nur ein marginales Schattendasein am Rande der grossen religioesen Stroemungen fuehrt, noch dass sie in ihren Ursprungslaendern auf allen Ebenen auf dem Rueckzug ist - darueber taeuschen auch keine gut vermarkteten Sozial- und Kulturprojekte hinweg -, noch das Verhalten ihres obersten Fuehrers im Verleugnen geschichtlich belegter Misswirtschaft und Fehlverhalten, ja sein eigenes glaubensschwaches Fluchtverhalten angesichts heranrueckender menschlicher Feinde (siehe seine Asienreise) zeugen sonderlich von dieser Machfuelle.

Dies alles bleibt freilich nicht auf die Lebenden beschraenkt, sondern gilt ebenso fuer die Toten. Und so kommen wir nun auf den dritten Punkt, auf das Entschlafenenwesen, zu sprechen.

3. Das Entschlafenenwesen

Selbst ein skizzenhafter Ueberblick ueber die wesentlichen Aspekte des neuapostolischen Glaubens kann nicht auskommen, ohne die Darstellung eines Vorstellungskomplexes, der unter dem Stichwort "Entschlafenenwesen" zusammengefasst wird.
Das "Entschlafenenwesen" betrifft all jene Dinge, die mit den Verstorbenen zusammenhaengen. Im engeren Sinne ist damit die neuapostolische Praxis angesprochen, fuer die Verstorbenen nicht nur betend einzutreten, sondern ihnen die Teilhabe am sakramentalen Dienst der Kirche zu ermoeglichen. Grundvoraussetzung dafuer ist zunaechst die Vorstellung eines Weiterlebens nach dem Tode, dass also die diesseitige Existenz eine unmittelbare und inhaltliche Entsprechung in einem jenseitigen Sein hat. Das Weiterleben nach dem Tode, - also in traditioneller Sprache - die Unsterblichkeit der Seele, gehoert zu den Grundgewissheiten des neuapostolischen Glaubens. In dem Buch "Fragen und Antworten ueber den neuapostolischen Glauben" koennen wir lesen: "Wir wissen, dass wir fuer die Toten beten koennen [...], damit auch sie der Erloesung teilhaftig werden. Sofern sie die vom Gnadenaltar ausgehende Heilsbotschaft ergreifen, wird Gott sie weiterfuehren und ihnen auch die Gnadenhandlungen zugaenglich machen, die stellvertretend fuer die Toten von Lebenden hingenommen werden."

Bemerkung:
Diese erneute klammheimliche Verquickung von "Wissen" und "Glauben" (siehe u.a. Anhang) wurde schon in meinen Aufsaetzen zur Sprache gebracht. Ehrlicher waere es, diese Unterscheidung generell zu beachten. Wissen laesst sich beweisen, Glaubensdogmen leben von der Psychologie und dem Wissensmangel der Glaubenden.

Die Sitte durch lebende Stellvertreter, den Verstorbenen die Sakramente zu spenden, praktizierte innerhalb der apostolischen Bewegung des 19. Jahrhunderts zuerst der Apostel Friedrich Wilhelm Schwarz (1815-1895). "In Reiseberichten der Apostel, die im damaligen Schrifttum unserer Kirche veroeffentlicht wurden, finden wir oft den Hinweis, wie viel Lebende und wie viel Tote versiegelt wurden. Entsprechende Eintragungen sind auch im Jahreskalender des Stammapostel Krebs (1832-1905) enthalten." Den Zugang zu den Sakramenten ermoeglichen damals wie heute ausschliesslich die Apostel.

Bemerkung:
Richtig, es handelt sich um eine Sitte, und als solche sollte sie auch betrachet werden duerfen. Jedenfalls kann sie, wie alle anderen Sitten und Gebraeuche auch, keinen Ewigkeitscharakter haben, sondern ist zeitlich und kulturell begrenzt oder doch zumindest historisch zuordnungsfaehig. Interessant waere nachzuforschen, aus welcher Glaubensgemeinschaft F.W. Schwarz diese Sitte uebernahm...

Die gesamte Entwicklung des "Entschlafenenwesens" seit Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart an dieser Stelle nachzeichnen zu wollen, wuerde den zeitlichen Rahmen dieses Vortrags sprengen. Wir muessen uns hier mit einer Skizze begnuegen. Die gegenwaertige Praxis, "dass die Gottesdienste fuer Entschlafene kuenftig dreimal jaehrlich stattfinden sollten, und zwar jeweils am ersten Sonntag der Monate November, Maerz und Juli, beginnend mit dem 4. Juli 1954", geht auf Anordnung von Stammapostel Johann Gottfried Bischoff zurueck. "Den Entschlafenen wird sonntaeglich", so heisst es in "Fragen und Antworten", "durch Apostel das Heilige Abendmahl gereicht. Dreimal im Jahr finden besondere Gottesdienste statt, in denen den heilsverlangenden Seelen die Sakramente [Taufe, apostolische Handauflegung, also Versiegelung, und Abendmahl] der Kirche Christi gespendet werden."
Zweifelsohne ist der Glaube, der sich auf die Welt der Toten bezieht, sie sozusagen in das diesseitige Erloesungsgeschehen aktiv hineinnimmt, fuer andere Christen eine befremdliche Sache. Selbst ein wohlwollender Kritiker wie der protestantische Konfessionskundler Helmut Obst bringt fuer diese neuapostolische Praxis nur wenig Verstaendnis auf. Er schreibt, "ein derartiger Dienst fuer die Toten [...] ist weder aus der Bibel noch aus der Tradition zu begruenden. Gottesdienste fuer Verstorbene, bei denen Lebenden fuer Verstorbenen Sakramente gespendet werden, sind ebenso ein neuapostolisches Spezifikum wie die sonntaegliche Spendung des Abendmahls an Lebende fuer Tote." Die Irritation und die Ablehnung, die die neuapostolische Praxis provoziert, haengen fraglos mit dem Verschweigen und Verdraengen des Todes in der modernen Gesellschaft und auch in den grossen Kirchen zusammen. "Der Tod", so bemerkte einmal der Schweizer Schriftsteller Gerhard Meier, "ist also staerker vorhanden als das Leben, das betrifft auch die Pflanzen- und Tierwelt. Die Erde ist ein riesiger Friedhof, ein Geisterschiff, wo man sich nur fuer kurze Zeit an Deck aufhaelt und dann wieder unter Deck geht." Obwohl die Zahl der Toten die der Lebenden uebersteigt, entschwinden sie gleichsam aus dem Bewusstsein der Lebenden. Bestenfalls gilt ihnen ein liebendes Erinnern und der Fromme wuenscht ihnen ein - freilich wenig spezifizierbares - Leben bei Gott. Doch ist Christus, wie Paulus im Roemerbrief schreibt, Herr ueber die Lebenden und die Toten (Roem 14:9). "Ein Herrscher nach dem Urteil der Welt", kommentiert der evangelische Theologe Gerhard Ebeling, "wird daran gemessen, wieviel Lebende er in seinem Gefolge hat. Mit den Toten ist kein Staat zu machen. Jesus Christus hingegen uebt die Herrschaft aus, bei der die Toten die ausschlaggebende Rolle spielen, weil an ihnen erst vollends offenbar wird, was es mit dieser Herrschaft auf sich hat."
Da sich Glaube und Praxis der neuapostolischen Christen in bezug auf die Verstorbenen von allen andern Christen grundlegend unterscheiden, besteht fraglos die Notwendigkeit einer wenigstens ansatzweisen theologischen Klaerung.
Fragen wir also zunaechst, welche Hinweise es auf die Spendung der Sakramente an Verstorbene im Neuen Testament gibt. Zugegebenermassen finden sich dort nur wenige Aussagen zu diesem Thema. Zum einen wird von Paulus im 1. Korintherbrief eine in Korinth bestehende Sitte mitgeteilt, sich fuer Tote taufen zu lassen. Paulus kommt auf diese Praxis innerhalb seiner Auseinandersetzung mit den Leugnern der Auferstehung zu sprechen. Ihm geht es also nicht um eine Rechtfertigung des Sakramentsempfangs fuer Verstorbene. Allerdings scheint es sich hierbei um eine voellig gebraeuchliche und von daher auch nicht weiter problematisierte Praxis gehandelt zu haben. Paulus schreibt (1 Kor 15, 29): "Was machen sonst, die sich taufen lassen ueber den Toten, so ueberhaupt die Toten nicht auferstehen? Was lassen sie sich taufen ueber den Toten?" Der 1. Korintherbrief, der um 54 n. Chr. entstanden sein duerfte, ist das frueheste Zeugnis fuer diesen Brauch.

Bemerkung:
"Sich taufen lassen ueber den Toten" ist keine eindeutig glaubensgemeinschaftmaessig zuordnungsfaehige Aussage. Es gibt vielerlei Interpretationsversuche diesbezueglich und insofern ist damit kein urchristlicher Nachweis im Sinne einer apostolischen Kontinuitaet hinsichtlich der Totentaufe moeglich. Im Gegenteil, die Wahrscheinlichkeit, dass sie ausserchristlichen Ursprungs ist, erscheint relativ hoch. Der Brauch selber und seine Gueltigkeit wurden von Paulus weder verneint noch bejaht. Es laesst sich somit auch keine diesbezuegliche Motivation oder Anordnung von Paulus aus dieser Textstelle herausfiltern.
Allerdings ist der Entschlafenenkult der neuapostolischen Kirche keine Exklusivtheologie dieser Gemeinschaft. Auch einige andere christliche Sondergemeinschaften berufen sich bei ihrer Totentaufe auf diese Stelle im Korintherbrief. So haben beispielsweise die Mormonen einen regelrechten Totenkult mit genealogischem Sterberegister daraus entstehen lassen.

Der zweite Stelle ist wesentlich spaeter, sie findet sich im 1. Petrusbrief, der wohl um 90 nach Chr. verfasst wurde. In 1 Petr. 3, 19f. findet sich nun kein Beleg fuer den Sakramentsempfang von Toten, sondern in ihm wird auf den Abstieg Christi nach seiner Kreuzigung ins ‚Reich der Entschlafenen', wie es im Apostolikum heisst, angespielt: "In demselben ist er auch hingegangen und hat gepredigt den Geistern im Gefaengnis, die Vorzeiten nicht glaubten, da Gott harrte und Geduld hatte zu den Zeiten Noahs, da man die Arche zuruestete, in welcher wenige, das ist acht Seelen, gerettet wurden durchs Wasser [...]." Auf den selben Zusammenhang wird nochmals in 1 Petr. 4: 6 bezug genommen, wenn es dort formelhaft heisst, "den Toten [sei] das Evangelium verkuendigt" worden. Vor allem die Stelle aus dem 1. Korintherbrief hat vielfaeltige exegetische Ueberlegungen provoziert. Vielfach nahm man an, bei der Toten- oder Vikariatstaufe handele es sich um eine gnostische Praxis, das heisst um einen sektiererischen Brauch. Der bekannte Neutestamentler Klaus Berger lehnt diese eindeutig negative Bewertung ab. Fuer ihn ist es eine in Korinth praktizierte Sitte, die in den selben theologischen Kontext gehoert, wie der Bericht vom Gang Christi in das Totenreich. Berger fuehrt zu diesem Themenkreis in seiner 1994 erschienenen "Theologiegeschichte des Urchristentums" folgendes aus:
Die Christen in Korinth praktizierten die Totentaufe. Es handelte sich um eine fuer Tote stellvertretend vollzogene Taufe, die wohl als Geisttaufe (mit Handauflegung? [...]) vorstellbar ist (1 Kor 15,29). Aufgrund der Analogie in 1 Petr 4,6 kann man vermuten, dass es sich um eine Zueignung des lebenschaffenden Geistes Gottes an die handelte, die als Tote diesen Geist zuvor nicht hatten [...]. [...] Wie man sich die Vikariatstaufe der theologischen Konstruktion nach zu denken hat, ist eine interessante Frage. Der Grundgedanke ist die ‚Stellvertretung' [...]. Ziel jeder Stellvertretung ist die heilswirksame Anrechnung fuer den, der den Akt nicht vollzieht. [...] Auch im Christentum ist die stellvertretende Tat Jesu nicht die einzige geblieben, da es stellvertretendes Gebet immer noch gibt.
Fuer Berger ist die im 1. Korintherbrief erwaehnte Totentaufe also nicht die Wassertaufe, sondern die Geistestaufe, das heisst also im neuapostolischen Kontext, die Versiegelung. Gemeindegliedern wurden stellvertretend fuer Verstorbene die Haende aufgelegt, um ihnen so den Empfang des Heiligen Geistes zu ermoeglichen.

Die Kirche der nachapostolischen Zeit hat sich gegenueber der stellvertretenden Spendung der Sakramente an Lebende fuer Tote ablehnend verhalten. Diese urchristliche Praxis wurde allein in Kreisen am Rande der alten Kirche gepflegt. Die Kirche hat die Totentaufe - und damit die Spendung der Sakramente fuer Verstorbene insgesamt - schliesslich im Jahre 397 auf dem 3. Konzil zu Karthago verboten.

Bemerkung:
Anstatt die Begruendung des Verbots mitzuliefern und diese auf ihre Berechtigung hin abzuklopfen etc., wird aus der Auffassung eines kirchenhoerigen Traditionstheologen grob verallgemeinernd auf eine "urchristliche Praxis" geschliossen, was weder statthaft noch sinnvoll sein kann.

Ist dieses Verbot blosser Ausdruck der Ignoranz gegenueber einer etwas abgelegenen urchristlichen Tradition? Eine solche Wertung waere freilich uebereilt und auch sachlich nicht gerechtfertigt, zumal man die Situation der Kirche nach dem Tode der Apostel bedenken muss. Ja, vom neuapostolischen Standpunkt aus ist diese Ablehnung durchaus berechtigt, denn wenn Apostel fehlen, dann kann auch der sakramentale Dienst fuer die Verstorbenen nicht vollzogen werden. Ein solches Tun waere eine in sich leere Handlung gewesen. Man moechte den Konzilsvaetern einen guten geistlichen 'Instinkt' unterstellen, dass sie darauf drangen, solche gleichsam nur aeusserlichen und inhaltsleeren Veranstaltungen - wie sie verschiedene christliche Randgruppen weiterhin vornahmen - zu verzichten. Man beschraenkte sich in der Folgezeit ausschliesslich auf die Fuerbitte fuer Verstorbene - wie sie auch heute noch im Katholizismus und in der Orthodoxie praktiziert wird.

Bemerkung:
Die Wirksamkeit sakramentaler Handlungen - anstatt aus der jeweiligen Herzenseinstellung des Vollziehenden - aus einem dogmatischen Aemterverstaendnis zu legitimieren, um alles, was ausserhalb des eigenen dogmatischen Amtsverstaendnisses vollzogen wird, als "inhaltsleere Veranstaltung" abqualifizieren zu koennen, kann nur dem abgehoben-elitaeren Welt- und Gottesbild einer religioes-kultischen Sekte entspringen.

Mit der Wiederbesetzung des Apostelamtes in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts entstand im Hinblick auf das zuvor Gesagte eine voellig neue Situation. Die Moeglichkeit, die urchristliche Praxis aufs Neue zu beleben und zu entfalten, bestand nun. Waehrend die Apostel der Katholisch-apostolischen Gemeinden sich an der Tradition der alten Kirche und der katholischen und orthodoxen Sitte der blossen Fuerbitte fuer Verstorbene orientierten, gingen die Aposteln der Neuapostolischen Kirche wesentliche Schritte darueber hinaus. Sie griffen zunaechst zurueck auf die bekannten neutestamentlichen Ansaetze und entwickelten sie weiter. Dass es sich hierbei nicht um theologische Willkuer handelt, das belegt die Tatsache, dass allgemein christliche Grundvorstellungen, die im Neuen Testament bestenfalls angedeutet werden, von der nachapostolischen Kirche breite dogmatische Entfaltung erfuhren. Man denke etwa an das Dogma von der Dreieinigkeit Gottes oder an die Sakramentenlehre.

Bemerkung:
Hier soll wohl die eine theologische Willkuer mit der anderen legitimiert werden. Nur groesster Legitimationszwang kann im Prinzip zu solchen christlichen Ausrutschern verfuehren...

Zweifelsohne ist im Neuen Testament ein Entschlafenenwesen im oben skizzierten Sinne nicht vorhanden, doch enthaelt es, gerade wenn man an die zitierten Ausfuehrungen von Berger denkt, durchaus Implikationen, die zu seiner Entfaltung und Spezifizierung einladen. Das geschah in den letzten 120 Jahren. Die gegenwaertige Praxis geht wohl vom biblischen Text aus, doch wird sie eigentlich erst durch die Autoritaet des Apostelamts legitimiert, dessen Aufgabe es ja ist, das Evangelium sach- und zeitgemaess zu deuten, zu entfalten und zu predigen.
Die sakramentale Hinwendung zu den Entschlafenen darf keinesfalls mit dem Spiritismus verwechselt werden. Dieser stellt eine Objektivierung des Jenseitigen, eine verdinglichende Hineinnahme ins Diesseitige dar. Man spricht dort vom Jenseitigen in den Kategorien des Diesseitigen. Das Neuen Testament und der sich darauf gruendende neuapostolische Glaube waren immer sehr zurueckhaltend in ihren Ausfuehrungen zur Welt der Entschlafenen. Es geht naemlich nicht darum, objektivierende Einblicke in die jenseitige Welt zu gewinnen oder zu gewaehren. Keine metaphysische Neugier soll befriedigt werden, sondern eine Heilszusage wird ausgesprochen, die Lebenden und Toten gleichermassen gilt.

Bemerkung:
Diese Unterschiede verwischen sich jedoch zusehens, wenn man an die Glaubenspraxis der neuapostolischen Kirche denkt, welche ihren Entschlafenenkult zuallererst nur mittels allgemein zweifelhafter, ja leider auch krankhaften Phantasien entsprungener Traeume und Visionen aus einer jenseitigen Welt herleiten und in den Rang eines Glaubensdogmas erheben konnte.
Damit kein Missverstaendnis aufkommt, es geht mir nicht darum, den Entschlafenenkult zu verwerfen - dies ginge nur mit Begruendungen, die auch alle anderen Sakramente hinfaellig werden liessen, sondern um die Art der Herleitung, welche immer nur auf Glaubensbasis stattfinden oder erklaert werden kann und eben nicht aufgrund irgendwelcher historischer Faktizitaet urchristlicher Ueberlieferungen.

An dieser Stelle ist zweierlei zu fragen. Zum einen: In welchem Zustand befinden die Toten sich? Und zum anderen: Warum sind sie auf die sakramentale Vermittlung des Apostelamts angewiesen?
Die Beantwortung der ersten Frage gelingt nur dann, wenn man die sachliche Einheit des Toten mit dem Lebenden, der er war, betont. Die Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz ist zwar mit dem Tod beendet, doch bleibt sie ein unveraeusserlicher Bestandteil auch des Verstorbenen. Seine eigene Geschichtlichkeit, mit all ihren Implikationen, gehoert zu ihm. Waere es anders, so koennte man nicht ernsthaft von einem persoenlichen Weiterleben nach dem Tode sprechen. Die Personalitaet des Toten steht in einer unaufhebbaren Kontinuitaet mit derjenigen des Lebenden. Wenn das so ist, dann sind die Toten aus der gefallenen Schoepfung nicht entlassen, vielmehr gehoeren sie zu ihr und befinden sich unter ihrem Gesetz. Der Mensch, so koennen wir bei dem katholischen Theologen Erik Peterson lesen, wird "im Evangelium, als der Kranke, der Besessene und als der Verlorene gesehen." Das gilt auch fuer die Verstorbenen. Gesetz und Evangelium sind Maechte, unter denen auch sie sich befinden. Die Suende herrscht weiterhin ueber sie. Ebenso besteht weiterhin die Moeglichkeit der Vergebung und Ueberwindung. Gottesferne und Gottesnaehe sind personale Positionen auch in der jenseitigen Welt. Dabei duerfen diese Kategorien keinesfalls statisch aufgefasst werden. Es besteht naemlich die Moeglichkeit, sie aufzubrechen und zu veraendern, in dieser Hinsicht besteht zwischen Diesseits und Jenseits durchaus eine Analogie. Wir sehen also, die verbreitete christliche Ueberzeugung, dass der "Mensch [...] seine im Leben eingenommene Stellung zu Gott nicht mehr aendern" kann und dass "keine Aenderung mehr moeglich [ist], weil im Tod der Mensch sich als entschieden erweist", bestreitet der neuapostolische Glaube mit aller Entschiedenheit. Vor diesem Horizont wird auch die Vorstellung ewiger Hoellenstrafen oder ewiger Verdammnis gegenstandslos. Setzt sie doch gleichsam den universalen Heilswillen Gottes ausser Kraft. Grundlage jeder positiven Veraenderung - hier wie dort - ist die Hinwendung zu Gott, ist also der Glaube. Mithin sind auch die Verstorbenen nicht aus der Notwendigkeit zu glauben entlassen. Begruendung und Stuetzung des Glaubens, der das Gottesverhaeltnis konstituiert, sind die Sakramente, sind Taufe, apostolische Handauflegung - also Versiegelung - und Abendmahl.
Kommen wir nun abschliessend zur zweiten Frage: Warum sind die Toten auf die Vermittlung der Sakramente durch die Apostel angewiesen? Mehr noch als alles andere steht und faellt das Entschlafenenwesen mit dem Apostelamt. Das Apostelamt steht am Schnittpunkt von diesseitiger und jenseitiger Welt. Im Licht des Apostelamtes wird so im engeren Sinne die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen, von der im apostolischen Glaubensbekenntnis die Rede ist, als unaufloesliche Gemeinschaft der Lebenden und der Toten erkennbar. Im weiteren Sinne wird die Menschheit insgesamt als Gemeinschaft der Lebenden und der Toten deutlich. Die Gemeinschaft der Glaeubigen kann der Tod nicht zerstoeren, gerade hierin erweist sich die Tod ueberwindende Kraft des Christusgeschehens. Aber auch die Zugehoerigkeit zur Menschheit und ihrem Geschick hoert mit dem Tod nicht auf, vielmehr bleibt sie fuer jeden Menschen unwiderruflicher Besitz. Innerhalb von Natur und Geschichte sind die Toten von den Lebenden strikt getrennt, allein im Glauben kann das Getrennte als Einheit verstanden werden. Allerdings soll damit nicht der Tod als radikaler Riss in der menschlichen Existenz geleugnet werden. Es geht nicht darum, das Skandalon des Todes zu entschaerfen. Vielmehr gilt die Zusammengehoerigkeit von Lebenden und Toten gerade angesichts der Ungeheuerlichkeit und letztendlichen Unverstaendlichkeit des Todes.
Die Lebenden und die Toten duerfen im Lichte des Evangeliums als Einheit aufgefasst werden, denn sie sind gleichermassen vor das Geheimnis der Menschwerdung Gottes gestellt. Gottes Eintritt in die Materie, sein Eingang in die Geschichte bedeutet: Das Heil ist in dieser Welt erschienen. Es wird allein im Kontext der Diesseitigkeit zugesprochen und erfahren. Die Erde ist der Ort, an dem das Heil geschichtliche Wirklichkeit wurde. Dieses Geschehen ist unueberholbar. Waehrend alles andere auf der Zeitstrecke zurueckbleibt, sind Menschwerdung Gottes, sein Tod und seine Auferstehung fuer die Menschen aller Epochen gleich gegenwaertig. Der ‚garstige Graben' der Geschichte, der sonst eine scharfe und nicht ueberwindbare Trennungslinie bildet, ist hier aufgehoben. Erik Peterson erklaert apodiktisch: "Der Mensch konstituiert sich also vom Menschensohn [also vom fleischgewordenen Gott] her. Dass der Mensch krank ist, ist er in Beziehung auf den, der die Krankheit heilt. Dass er besessen ist, ist er in Beziehung auf den, der die Daemonen austreibt. Dass er ein Suender ist, ist er in Beziehung auf den, der Suenden vergibt." Aus diesem skizzierten Zusammenhang faellt ebenfalls, so muss ergaenzt werden, der Tote nicht heraus. Zugaenglich wird diese Wirklichkeit durch die Kirche, in der Christus seit seiner Himmelfahrt im Heiligen Geist gegenwaertig ist. Das heisst aber auch, dass das Heil in jedem Fall durch die von Christus berufenen und gesandten Apostel zugesprochen wird. Die Heilsmittel sind in der sichtbaren Kirche vorhanden. Sie werden verwaltet von den lebenden Aposteln. Die Apostel sind die Gesandten Christi, die wie er, in die Bereiche der Toten hineinzuwirken vermoegen. Sie allein sind in der Lage, den reinen Zugang zu den Verdiensten Christi zum Wohl fuer die gesamte Menschheit - also fuer Lebende und Tote - zu gewaehren.

Bemerkung:
Letzter Abschnitt zum Befund der Toten und der sakramentalen Vermittlungsnotwendigkeit eines wie auch immer zu verstehenden Apostelamtes kann so biblisch nicht legitimiert werden, ist meines Erachtens aber im Kontext der christlichen Dogmatik und Religionsentwicklung eine ebenso vertretbare Interpretationsmoeglichkeit wie andere kultischen oder sakramentalen Handlungen. Die Betonung liegt dabei allerdings auf "Moeglichkeit" - es gibt auch andere Interpretationen.

Die Hauptproblematik, um zu einem Fazit zu kommen, liegt wie bei so manchen anderen christlichen Gemeinschaften in der Gefahr, die biblischen Texte fernab jeglicher sinnstiftenden Zeit- und Kulturkohaerenz und abseits moderner Forschungserkenntnisse, und dafuer meist nach traditionsbehaftetem Strickmuster, fuer die eigenen Zwecke zu ueber- oder auch mal umzuinterpretieren.
Deshalb moechte ich im Anhang nochmals Auszuege aus zweien meiner aelteren Aufsaetze zu dieser Problemtik vorstellen, mit dem Versuch, die angesprochene biblische Beweis-Problematik aus neuerer theologischer Sicht zu veranschaulichen.

Anhang
Auszug aus folgenden Aufsaetzen:

1. Amtskirche, Amtstraeger und Apostel - Beweis fuer jesuanische Originalitaet?
2. Biblische Uebertragungslogik von schriftenorientierten "Glaubensbeweisen" und "goettlichen Willenskundgebungen" kritisch hinterfragt

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