Auszug aus Rudi Stiegelmeyr's Aufsatz: "Amtskirche, Amtstraeger und Apostel – Beweis fuer jesuanische Originalitaet?"

Kommen wir zum zweiten Punkt: Die Juenger Jesu wurden biblischerseits bereits Apostel genannt, bevor sie ueberhaupt den Auftrag bekamen, Suenden zu vergeben, d.h. der blosse Name "Apostel" oder gar ein darin suggeriertes Amtsvermoegen sind auch biblischerseits weder verantwortlich fuer das geistige Vermoegen noch fuer die temporaeren Vollmachten! (Lk. 9,10) Die Juenger Jesu wurden ja nicht bei der Uebergabe ihres Verkuendigungsauftrags zu Aposteln ernannt - Jesu 'ernannte' sie ueberhaupt nicht dazu - sondern der Name "Apostel" ist lediglich die etwas eingedeutschte Wiedergabe des griechischen "Apostolos", ein Begriff, der seinerseits eine falsche Uebersetzung des von Jesus benutzten hebraeischen Wortes fuer "Juenger" also "Nachfolger" ist.

Der hebraeische Begriff "saliah" hat bereits zur Zeit der Urchristen einen Bedeutungswandel durchgemacht. In seiner rechtlichen Bedeutung aus semitischen Braeuchen entstammend und in der Bedeutung 'Abgesandter, Vertreter' bei den Rabbinern gebraeuchlich, wurde sein Status naemlich interessanterweise erst seitens einiger neutestamentlicher Gemeindebriefschreiber und -redakteure auf den nachoesterlichen Apostelbegriff uebertragen (z.B. 1 Kor. 15, 5-7 und Gal. 1,17).

Kurt Hutten schreibt dazu: "Der Begriff Apostel ist die Uebersetzung des aramaeischen "schaliach". Dieser Begriff drueckt im Spaetjudentum ein festumgrenztes Rechtsverhaeltnis aus: es bezeichnet den Boten, der einen Auftrag seines Herrn auszurichten hat. Fuer die Dauer dieses Auftrages vertritt er seinen Herrn vollgueltig, so dass im Spaetjudentum der Satz anerkannt wurde: "Der Gesandte eines Menschen gilt so viel wie dieser selbst." Alle vom Vorsteher einer Gemeinde beauftragten Gesandten wurden Apostel genannt (vgl. 2.Kor.8,23; Phil. 2,25 etc.). Der Vorbeter im Synagogengottesdienst wurde als "Apostel" bezeichnet, weil er als Bevollmaechtigter der ganzen Gemeinde sprach. Besonders haeufig begegnet der Ausdruck "Apostel" als Bezeichnung der Boten, die das juedische Synedrium an einzelne Gemeinden schickte. Sie waren allesamt "Apostel", solange ihr Auftrag waehrte. Es handelte sich also nicht um ein festes, bleibendes Amt auf Lebenszeit (dies waere auch ein begrifflicher Widerspruch, Anm. d. Autors), sondern nur um eine zeitweilige Funktion. Sie erlosch, wenn der Auftrag erfuellt war. Es war selbstverstaendlich, dass ein Apostel seinen Auftrag und damit auch seine Wuerde niemals an einen Dritten uebertragen, sondern nur in die Haende seines Auftraggebers zuruecklegen konnte. Seine Stellung laesst sich am besten mit der Position eines diplomatischen Vertreters vergleichen. Dieser empfaengt Auftrag und Vollmacht von seiner Regierung. Er kann seinen Auftrag als Botschafter wieder an die Regierung zurueckgeben oder von dieser abberufen werden; aber er kann niemals von sich aus einen anderen zum Botschafter ernennen."(1) Aus diesem Grund konnten und wollten die von Jesus persoenlich ernannten Juenger ihr Apostelamt auch nicht auf andere uebertragen, und darum dachte letztendlich wohl auch keiner daran, Nachfolger zu ernennen.

Hutten weist auf einen wichtigen Punkt hin wenn er bemerkt, dass das Neue Testament den Begriff der Nachfolge ausschliesslich auf das Verhaeltnis zwischen den Juengern und Jesus selber bezieht. In der Lutheruebersetzung ist "Nachfolge" nur vereinzelt auf das Verhaeltnis zwischen der Gemeinde und Paulus bezogen. Aber die griech. Vokabel, die hier gebraucht wird [mimeisthai], bedeutet etwas anderes als das fuer "Nachfolge" in Bezug auf Christus verwendete [akoluthein], naemlich "nachahmen" oder "zum Vorbild nehmen".(2)

Selbstverstaendlich hatte auch Jesus, wie die meisten seiner rabbinischen Zeitgenossen, Juenger um sich geschart und diese als Apostel zur Predigt seiner Botschaft und zur Heilung von Krankheiten ins Volk gesandt. Wenn wir den Text jedoch genauer studieren, so faellt auf, dass die Juenger bei zweien der Evangelienschreiber nur im Zusammenhang mit ihrer zeitweiligen Aussendung die Bezeichnung "Apostel" erhielten. (Mt. 10,2 und Mk. 6,30); ihr Auftrag als entsandte Boten war zu Ende, nachdem sie zurueckgekehrt waren und Jesus Bericht erstattet hatten (Mk. 6,30; Lk. 9,10). Warum gerade diese Schreiber hier bei der Wahrheit blieben, werden wir deutlich erkennen, wenn wir die Zusammenhaenge, die beim Verfassen des Neuen Testaments eine Rolle spielten, naeher durchleuchten. So wurde Jesus selber als Apostel und Hoherpriester bezeichnet, weil er von Gott zu den Menschen gesandt worden war und sozusagen als Stellvertreter der Menschen bei Gott fungierte. (Heb.3/1)

In dieser stellvertretenden Funktion lag Jesu nichts ferner als eine neue religioese Institution – geschweige denn eine Amtskirche mit Aemterfunktionen – zu gruenden oder die der juedischen Synagoge zu aendern oder gar aufzuloesen. Gewiss war er ihr gegenueber aeusserst kritisch eingestellt. Sieht man jedoch genauer hin, so waren es die Missbraeuche, Anmassungen und Selbstherrlichkeiten der juedischen Fuehrungsschicht, die Jesus mit aller Schaerfe angriff. Weder dem Neuen Testament noch den seither gefundenen historischen Dokumenten ist jedoch zu entnehmen, dass Jesus entweder eine eigene Organisation im Sinne einer Neuen Kirche oder eine "Kirche" fuer die Heidenmission gruenden wollte. Dies wird aus vielen Begebenheiten allein schon innerhalb des Schriftentums des Neuen Testaments eutlich. Verdeutlichen wir uns dies an nur einem Beispiel.

Petrus, das von Jesus angeblich sogar gesetzte Haupt der Juenger, war mehr als drei Jahre mit seinem Herrn und Meister beisammen. Waere es Jesu Absicht gewesen, eine neue Religion zu gruenden, gar noch eine weg von seinem juedischen Mutterboden in Richtung Heidentum, so waere gewisslich mehrmals darueber gesprochen worden. Gerade ein mit prophetischer Weitsicht ausgestatteter Gottessohn haette darauf aufmerksam gemacht, dass die weitere Entwicklung seiner Denkweise und Lehre nicht im Judentum liegen koenne. Wie aber denkt Petrus? Jahre nach dem Tod seines Herrn und Meisters muss ihm ein Engel geschickt werden, um ihn von der christlichen Heidenmission zu ueberzeugen. Der schafft dies allerdings im Gegensatz zu Jesus selber auf Anhieb. So jedenfalls will es uns die Bibel glauben machen. Wie passt solches aber zusammen? Eben nicht... Mit anderen Worten: Waere Jesus der Ueberzeugung gewesen, seine Lehre muesse weltweit Verbreitung finden, haette er sich zu Lebzeiten bereits selber in diese Richtung begeben, zumal seine Arbeit bei nichtjuedischen Zeitgenossen ohnehin erfolgversprechender gewesen waere. Auf alle Faelle haette er sich diesbezueglich zumindest geaeussert, was wiederum den Engeltraum und die himmlische Fuehrung absolut unnoetig gemacht haetten. Dass er wahrscheinlich gar nicht auf eine Heidenmission orientiert war, zeigt ein anderer Sendungsbefehl deutlich. Dort gebot er seinen Juengern naemlich genau das Gegenteil: "Gehet nicht auf den Wegen zu den Heiden und betretet auch keine Stadt der Samariter, geht vielmehr zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel" (Mt 10,5; vgl. Mt 15,24 und Mk 7,27). Sein Gott war der "Gott der Vaeter", jener Jahwe, der sich das neue Volk (von dem polytheistischen israelistischen Ur-Volk wissen wir sehr wenig) der Juden im Laufe seiner Geschichte "geschaffen" hatte. Fuer uns heute ist dieser Widerspruch zudem einer von mehreren Hinweisen, wodurch sich der angebliche Sendungsauftrag Jesu klar als redaktioneller Zusatz des Matthaeusevangeliums aus der urkirchlichen Spaetzeit ueberfuehren laesst.

Aber auch textkritische Belege sprechen eindeutig wider die Echtheit des matthaeanischen Sendungsbefehls. Grundsaetzlich ist naemlich davon auszugehen, dass als tatsaechliche Originalworte Jesu in aller Regel nur solche in Frage kommen, die der Kirchenlehre widersprechen. Wenn der Matthaeus-Schreiber Jesus sagen laesst: "Gehet nicht auf den Wegen zu den Heiden und betretet auch keine Stadt der Samariter, geht vielmehr zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel..." (Mt 10,5), so gilt dieses Login deshalb als echt – und das ist in den meisten Faellen der verifizierende Pruefstein – weil die Christenheit in Form der kath. Kirche ja alsbald die Heidenmission betrieb, also das Gegenteil dieses Jesubefehls praktizierte. Erfunden haette sie ein solches Wort, das gegen ihre eigene Praxis spricht, sicher nicht. Um diese Praxis aber zu rechtfertigen, schmuggelte man, im eklatanten Widerspruch zu dem echten Ausspruch Jesu, spaeter an den Schluss des Matthaeusevangeliums den Taufbefehl, in dem der "auferstandene" Jesus ploetzlich die Weltmission gebietet. Deschner Konklusion: "Dieser Befehl, den die Christen ausfuehrten, bevor er gegeben war, gilt allen kritischen und traditionsfreien Theologen als Faelschung."

Aber selbst wenn wir den Sendungsauftrage ernst nehmen koennten und Jesu seine Juenger in alle Welt (die damals bekannte Welt!) ausgesandt und ihnen Macht und Auftrag gegeben haette, u.a. Suenden zu vergeben etc., so hat er dies doch weder in eine starre Amtsform gelegt, noch wollte er es als einer Art "Geistes-Hierarchie" entsprechenden Praerogative verstanden wissen – was ja auch seiner Lehre widersprochen haette. Und gewiss hat er damit auch nicht gemeint, was die Kirchenlehrer in langen Zeiten der Kirchengeschichte in den Sendungsauftrag interpretiert haben. Drewermann schreibt dazu: "...eben weil man spaetestens vom 4.Jh.n.Chr. die Botschaft Jesu als "Lehre" zu bestimmen suchte: Ruestet euch mit Macht, um das Bildungsmonopol der Gesellschaft, der jeweiligen Kultur, des jeweiligen Staates, Volkes oder Stammes zu erobern; zwingt mit der Macht, die ihr als von Gott verliehen glauben sollt, jede andere Lehre durch wirksame Propaganda, und notfalls mit Gewalt in die Knie; zerschlagt, wo ihr koennt, die religioesen, moralischen und kuenstlerischen Grundlagen und Ausdrucksformen aller fremden Kulturen..."(3), wurde daraus eine Geisteshierarchie, deren wichtigstes Ziel es wurde, ihre eigene Legitimitaet aufrecht zu erhalten, anstatt den Erloesungsgedanken der jesuanischen Frohbotschaft mit anderen Menschen zu teilen. Daraus folgert denn auch programmgemaess was Drewermann anprangert: "Wer das Christentum als eine Lehre definiert, der etabliert, ob er will oder nicht, ganz wie von selbst den Stand der Lehrer, der rechtfertigt notwendig den Lehrbetrieb in Sachen Religion und kehrt Jesu Wort auf den Kopf, der seine Juenger noetigte, ohne alles (...) einfach als Menschen, in die Doerfer Galilaeas zu gehen, um etwas zu verkuendigen, das die "Grossen" und "Weisen" niemals, die "Kleinen" aber ohne weiteres verstehen koennten: die einfache Botschaft davon, wie nahe Gott unserem Leben sein kann, wenn wir es in seiner Armut, seiner Ohnmacht, seiner Tragik und seiner Gebrochenheit ernst nehmen."(4)

Zuerst wurde zu Beginn des 2. Jhrds. aus diesem Sendungsauftrag ein "Amtsauftrag" und im Gefolge dann logischerweise ein "Amtsvermoegen" suggeriert, das aber vor dem Hintergrund der damaligen Situation zu verstehen ist. Es handelte sich um eine Art Mitteilungsvollmacht im Sinne einer Glaubensautoritaet gegenueber allen Menschen, die damals von Jesu Lehre ja so gut wie nichts wussten. Dies meinte auch der Paulusbriefschreiber wenn er den Glaeubigen zu Ephesus schrieb: "So sollen wir alle zur Einheit im Glauben und in der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, damit wir zum vollkommenen Menschen werden und Christus in seiner vollendeten Gestalt darstellen." (Eph.4,13) Dies als unabdingbar und fuer alle Zeiten geltende 'Anweisungs- oder gar Geistesvollmacht' woertlich auf ein zweitausend Jahre spaeter lebendes Christentum uebertragen und anwenden zu wollen, das, selbst den Heiligen Geist tragend, seit Jahrzehnten in dieser Lehre gewachsen und der Erkenntnis des Sohnes Gottes ungleich naeher gekommen ist als sein urchristliches Geschwister, kann genausowenig nachvollzogen werden, wie beispielsweise eine lebenslaengliche Weisungsbefuegnis eines Lehrers seinen laengst erwachsenen und wissenden Schuelern gegenueber. Damals bezog sich selbst Paulus als Apostel in das Wachsen der Erkennis mit ein, fasste er dies doch als lebenslange Aufgabe fuer alle auf. Ganz im Sinne des altbekannten Sprichwortes: Man lernt im Leben niemals aus, ist dies bis heute so geblieben - allerdings auf einer ganz anderen Ebene.

Mit geradezu brachialer Vorliebe wollen die geistlichen Fuehrer gewisser Religionsgemeinschaften ihre amtsmaessige Vormachtstellung aus der angeblich jesuanischen Petrusanweisung "...weide meine Laemmer und meine Schafe" ableiten, wobei die NAK noch eins draufsetzt, indem sie das Gleichnis von der Hochschule des Heiligen Geistes bemueht, an der ihre Prediger Lehrer und ihre Glaeubigen brave und aufmerksame Schueler zu sein haben. In der Tat ist diese Jesuaussage zuerst als Hirtenamt und spaeter, nachdem ja auch der Hirte seinen Schafen den Weg und die Weideplaetze vorgibt, als geistige Fuehrung und lehrmaessige Vormachtsstellung uminterpretiert worden. Dabei ist, zunaechst unbesehen des redaktionellen Wahrheitsgehaltes dieser Aussage, diese vor dem Hintergrund juedischer Gebraeuche und juedischer Religionsethik und -tradition zu sehen, nach der das Bild von Hirte und Schafe als ein Sinnbild fuer treue Zusammengehoerigkeit fungiert. Dies laesst sich auch an dem Beispiel der Schafe verdeutlichen, die der wahre Hirte allein laesst, nur um das eine verirrte Schaf zu suchen und zu retten. Der tiefere Inhalt dieses Gleichnisses liegt fuer westliche Kulturen in der juedischen Verbildlichung verborgen, die mit diesem Gleichnis einen grossartig humanistischen Gedanken zum Ausdruck bringen will, naemlich dass der Wert einer menschlichen Seele sich nicht in nuechterne mathematische Zahlen oder Gleichungen fassen und sich so aufrechnen laesst - ein Gedanke, der in seiner Tragweite noch von keinem Rechtssystem dieser Welt auch nur annaehernd umgesetzt worden ist.

(...)

Dass gewisse Menschen zu allen Zeiten bestimmte Eigenschaften in sich getragen haben moegen (die Gabe der Weissagung, der Prophetie, der Traumdeutung u.v.a.) soll in diesem Zusammenhang keineswegs vernachlaessigt oder grundsaetzlich abgestritten werden. Nur sind es letztendlich die Eigenschaften, die ein menschlich institutionalisiertes Amt ins Leben rufen, nicht das Amt, das dann die Eigenschaften hervorzaubert. Die kirchlichen Aemter muessen sich somit an den Eigenschaften, 'Faehigkeiten' und daraus folgernd Verhaltensweisen ihrer jeweiligen Traeger messen lassen (5) und nicht am status quo des Amtsauftrages! Dass dies so ist, beweisen die vielen 'Fehlbesetzungen' in allen Amts- und Hierarchiestufen aller Glaubensgemeinschaften. Auch die Juenger Jesu mussten, indem sie all ihres bisheriges Leben liegen und stehen liessen, ihre wahre 'Eignung' beweisen - sie entstieg nicht erst wundersam aus Geisteshoehen mit dem erwaehnten Sendungsauftrag im Evangelium nach Matthaeus!

Wenn die Fuehrer christlicher Religionsgemeinschaften also ihre geistlichen Amtsbefugnisse auf die Bibel selbst zurueckfuehren und behaupten, sie waeren von Jesu persoenlich gesandt oder waeren die Nachfolger der ersten Apostel, haetten gar auch noch u.a. deren angeblich ausschliessliche Vollmachten usw., so sollten sie als Legitimationsnachweis zuallererst auf das achten, was Jesu als "Amts"-Legitimation und damit eindeutiges Unterscheidungsmerkmal klar umriss: "Huetet euch vor den falschen Propheten; sie kommen zu euch wie harmlose Schafe (sic!), in Wirklichkeit aber sind sie reissende Woelfe. An ihren Fruechten werdet ihr sie aber erkennen. Erntet man etwa von Dornen Trauben oder von Disteln Feigen? Jeder gute Baum bringt gute Fruechte hervor, ein schlechter Baum aber schlechte. Ein guter Baum kann keine schlechten Fruechte hervorbringen und ein schlechter Baum keine guten (selbst wenn er in einem Garten mit ausschliesslich guten Baeumen steht...). Jeder Baum, der keine guten Fruechte hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen. An ihren Fruechten also werdet ihr sie erkennen." (Mt. 7,15-20)

Auch fuer unsere kulturellen Sprachwurzeln geht aus dieser metaphorischen Redewendung des Hebraeischen ganz klar hervor, dass das Bildnis der Frucht ein Gleichnis fuer etwas "Gereiftes" darstellt, etwas, das sich ueber einen bestimmten Zeitraum als etwas Ganzes entwickeln konnte und entwickelt hat. Fehler, Schwachheiten und Gebrechen sind gleichsam die makelhaften Stellen an einer Frucht, aber die Frucht selber ist ein Sinnbild fuer die menschliche Einstellung und menschliche Denkweisen. Und genau die hat Jesus gemeint in seinem Gleichnis. In einer anderen Situation sprach er von den Pharsaeern und Schriftgelehrten als von einem "Otterngezuecht", weil sie die, die ins Himmelreich wollen, nicht hineinlassen, und sie selber nicht hineinkommen koennen. Dies Haltung entspricht nicht menschlichen Fehlern und Schwachheiten, sondern einer typisch menschlichen Einstellung, und die hatte Jesus damals schon ganz klar erkannt.

(...)

Fassen wir zusammen: Was, hinsichtlich einer urchristlichen Nachfolge-Legitimation, zumindest bei den christlichen Organisationen, letztendlich zaehlt, ist die Bereitschaft eines jeden einzelnen ihrer Mitglieder, sich am Beispiel des Verhaltens von Jesus Christus in dessen Wesen zu vervollkommnen - eine Moeglichkeit, die unbesehen aller religioesen Aemter und Glaubensrichtungen allen offen steht. Das ist wirkliche christliche Nachfolge und gleichzeitig jener eine Weg, von dem Jesus selber gesagt hat, dass er zurueck zu seinem Vater faehrt. Und dieser eine Weg ist in erster Linie an eigene Erkenntnis und Ueberzeugungen gebunden und nicht an irgendwelche Institutionen. Jesus wollte mit der Sendung seiner Juenger seine und damit seines Vaters Wesensart verbreitet wissen, aber sicherlich keine weitere Institution gruenden - er hat ja zu Lebzeiten auch den bestehenden Rabbinerschulen keine hinzugefuegt. Nicht Name, Herkunft oder Institution, sondern Wesen und Lehre waren ihm wichtig!

Dies zeigt sich deutlich an seiner eigenen Arbeit am damaligen Volk Israel, ging er doch gerade nicht zu der bestehenden "Gemeinde" der Kinder Israels oder den Elitegruppierungen der Pharisaeer-gemeinden, sondern er wagte es, die Grenzen fertiger Gruppierungen zu ueberschreiten in Richtung derer, von denen niemand jemals hatte glauben koennen, dass er dem "Volk der Erwaehlten" zugehoeren duerfe. Gerade nicht eine verfasste Kirchlichkeit oder vorgefertigt statuierte Gemeindeinstitutionalisierung, sondern eine offene Menschlichkeit bestimmte die Art seines Auftretens, so dass er bald schon mit allen Kreisen der etablierten Religion sich ueberwarf, ja ueberwerfen musste. Jesu Frage lautete niemals, welch einer "Gemeinde" jemand zugehoere, sondern, was fuer ein Mensch jemand sei. So sammelte er Menschen aus allen Schichten um sich, weil er damit aufhoeren wollte, Gott auf die engen Festlegungen seiner "Vertreter" auf Erden zu beschraenken. Sein Gott war ein Gott, der die Sonne aufgehen liess ueber Gute und Boese und der es regnen liess ueber Gerechte und Ungerechte, wissend, dass wir Menschen unter dem Fluch der Suende und faktischen Willenlosigkeit alle miteinander zusammenhaengen und es schon deshalb all die Demarkationslinien der Ausgrenzung, auf welche auch die damalige Geistlichkeit wie auch die "Pharisaeer" aller Zeiten so grossen Wert legen, nicht geben darf noch kann.

Jesu wollte gerade keine Organisation ins Leben rufen, die doch nur neue Grenzen aufwerfen wuerde. Wohl wollte er die verstreuten Schafe Israels sammeln, aber keine neue Religionsgemeinschaft gruenden; er wollte ueberhaupt keine neue Religion, sondern dass man endlich damit anfange zu tun, was die Propheten Israels verkuendet hatten. Die Einforderung der Menschlichkeit vor den geschriebenen und verkuendeten Glaubensgesetzen und -reglementierungen brachte ihn damit aber naturgemaess auf Konfrontationskurs mit der angeblich gottgewollten Geistlichkeit. Gerade dadurch, dass die etablierten und legitimierten Fuehrer des Volkes Gottes konsequent seinen Untergang planten, kam es, dass aus der Gruppe derer, die sich Jesu anschlossen, eine kleine "Gemeinde" werden musste. Wenn es "Statuten" fuer diesen Kreis der Jesujuenger geben sollte, so muessten sie, wie E. Drewermann sie treffend umschrieb, an erster Stelle etwa so lauten: * "Schliesse niemand aus, denn alle sind Suchende (auch und gerade die Kritiker einer Sache), und du selber warst ein Ausgeschlossener, ehe Gott dich fand; * Verurteile niemanden, denn was weisst du vom anderen, und du selber warst ein Verurteilter, ehe Gott dich lehrte, an Vergebung zu glauben; * Suche in jedem Menschen das Bild seines Wesens wiederzufinden, denn du selber warst wie verloren, ehe Gott dich rief und erloeste.

Eine solche "Gemeinde" der Juenger Jesu, so faehrt Drewermann fort, der "Wiedergeborenen" aus dem Geiste Jesu, muesste frei sein wie der Wind, der durch die Blueten des Fruehjahrs weht und das Leben weckt durch den Austausch der Samen der Liebe; sie muesste sein wie der Atem, in dem das Herz der Menschen sich weitet vor Freude und Glueck; sie muesste sein wie das Salz (Mt.5/13), das die Speisen mit Kraft und Geschmack erfuellt, indem es die eigenen Kristallgitter aufbricht und in lebhaftester Wechselwirkung auf die Elemente der Umgebung reagiert; sie muesste sein wie die Hefe im Teig (Mt. 13/33), die man am Ende nicht wiedererkennt, doch deren Anwesenheit man spuert am Wohlgeschmack des Brotes. Nicht Selbstbewahrung, Weltabschnuerung, Prinzipientreue und der gottselige Gruppenegoismus sogenannter "Auserwaehlter" war das Ziel Jesu, sondern eine angstfreie Offenheit, bei der die Mitglieder der "Gemeinde" nicht immer wieder ihr zerbrochenes Selbstvertrauen durch den Rueckhalt der glaeubigen Meinungsuniformitaet aller stabilisieren muessen.

So unterschiedlich ist das Ergebnis, je nachdem, ob man wesentlich die Glaubensbildung des Einzelnen foerdern will oder sich auf die "Glaubensfreudigkeit" der Gemeinde beruft. Ein selbstbewusster, ueberzeugter Christ, der im Glauben an Gott gefestigt in sich selber ruht, braucht nicht den Narzissmus der Gruppenzugehoerigkeit zu seinem glaubensmaessigen Selbsterhalt, und so kann er erwarten und verlangen, dass jeder einzelne der Gemeinde, die sich auf den Geist und das Vorbild Christi beruft, dem anderen dient bis zur Selbstverleugnung – und umgekehrt die Gemeinde als Ganzes. Je schwaecher, nachfolgeabhaengiger und unterdrueckter die Individuen einer Gemeinde sich fuehlen, desto mehr werden sie bereit sein, sich im Dienst an den Interessen aller "aufzuopfern"; desto starrer aber werden sie auch darauf bestehen, dass die Gemeinde selbst zum Ort ihres Rueckhaltes und zum Ersatz ihres fehlenden Rueckgrates wird und als solches unangetastet bleibt. Nur so sind dann letztendlich auch die ganz und gar unchristlichen Gehaessigkeiten einzelner "Gotteskinder" zu verstehen, sobald ein Kritiker am Ort des Geborgenseins ihres geistlichen Selbstbewusstseins kratzt. Jesus aber wollte in keinem Fall die Beruhigung der individuellen Aengste und Schuldgefuehle auf kollektiver Ebene; noch weniger allerdings wollte er, dass man die Frage nach goettlicher Wahrheit deligiert an die Frage nach der Mitgliedschaft in der vermeintlich richtigen Gruppe oder Gemeinschaft." (6)

Wie sich unschwer zeigen liess, klaffen auch und gerade diesbezueglich bei der Neuapostolischen Kirche, wie in den meisten religioesen Glaubensrichtungen, Anspruch und Wirklichkeit, Wunschdenken und verifizierbare Geschichte doch hin und wieder drastisch auseinander.

(...)

Was die Aemtereinsetzung durch die neuapostolischen Apostel im allgemeinen und vor allem die Apostelberufungen seitens des Stammapostels im besonderen betrifft, sollte K. Huttens Einwand nicht unbeachtet bleiben: Alle grossen christlichen Kirchen und Freikirchen sind sich darin einig: das Apostelamt und seine Vollmachten sind an den unmittelbaren Auftrag durch Jesus gebunden. Deshalb gibt es seit den Tagen der Urkirche keine Apostel mehr. Die Apostel konnten ihr Amt nicht weitergeben. "Kein Gesandter kann einen anderen zum Gesandten ernennen; dafuer ist nur der Sender zustaendig. Darum dachte auch keiner von ihnen daran, Nachfolger zu ernennen." (7)

Dies ist letztendlich auch der urkirchliche Knackpunkt. "Warum", so stellt denn auch der Religionswissenschaftler Helmut Obst die entscheidende Frage, "ist das Apostelamt nicht weitergegeben worden, wo es doch das alleinige Licht der Kirche war? Und wer ist fuer diese heilsgeschichtliche Katastrophe verantwortlich zu machen?" (8) Wenn es Gottes Wille war, dass nur ueber die Apostel Zugang zum Heil zu finden waere, warum erweckte Gott dann in seinen urkirchlichen Aposteln nicht jene Erkenntnis der notwendigen Weitergabe des Amtes, die er anscheinend bei den endzeitlichen Aposteln der neuapostolischen Kirche wie selbstverstaendlich erzeugte? Oder haben die damaligen Apostel, am Ende gar den Auftrag ihres Senders verraten – allen voran Petrus, dem genau diese Verantwortung uebertragen worden war: "Weide meine Laemmer und Schafe"?

"Selbstverstaendlich", so folgert Obst weiter, "kann es seitens der neuapostolischen Kirche auf diese Fragen keine ehrlich ueberzeugenden Antworten geben, durch die letztendlich die Urapostel schuldig gesprochen wuerden, denn sonst fiele die ganz Apostellehre, einschliesslich des Anspruch der jeutigen Apostel, in sich zusammen." Und Kurt Hutten kommt zu der Schlussfolgerung: "Die neuapostolische Verlegenheit in diesem Punkt zeigt sich darin, dass die verschiedensten Antworten hierzu probiert und wieder fallengelassen wurden. Einmal rechnete sie es den urchristlichen Glaeubigen als Schuld an, dass diese das Apostelamt eingehen liess, was die Frage aufwirft: Warum hat aber der Herr selber 1700 Jahre verstreichen lassen, bis er dieses Amt wieder erweckte, das doch heilsnotwendig war? Wie vereint sich das mit der Botschaft von der Liebe Gottes in Christus und mit der Verheissung in Mt.28,20?" (9)

Ausserdem: Wenn die Juden zur Stunde Null "reif" waren, den Sohn Gottes als ihren Heilsbringer zu empfangen, dann waeren es die Millionen glaeubiger und hilfesuchender Menschen der vergangenen 1900 Jahre allemal gewesen. Dadurch wird auch die naechste Antwort der neuapostolischen Kirche, naemlich die der Ausrottung der Apostel, als Begruendung fuer die apostellose Zeit, hinfaellig, wirft diese Antwort im Kern doch die gleichen Fragen auf. Dem wahren Sachverhalt, dass naemlich aus Sicht der ersten Apostel keine weiteren notwendig waren, da sie ja das Reich Gottes zu ihren Lebzeiten erwarteten, kam die Antwort in Art. 472 des neuapostolischens Lehrbuch von 1933 auf die Frage, ob die urchristlichen Apostel fuer ihre Nachfolger Sorge getragen haetten, viel naeher. Da diese Antwort allerdings die Heilsnotwendigkeit des Apostelamtes in Frage stellen koennte, wurde Frage und Antwort aus den folgenden Lehrbuechern bis 1952 gestrichen. Seit 1992 wird die Verfolgungsthese erneut fallengelassen und die Schuld den damaligen Glaeubigen und ihrem Verhalten zugeschrieben. Daraus ergibt sich die weitere Frage, warum es den damaligen Aposteln nicht gelungen ist, auch nur eine einzige Gemeinde zur Brautgemeinde zubereiten zu koennen, noch dazu, wo von einigen Gemeinden doch so viel Gutes zu lesen ist? All das Gute, das ueber mindestens sieben Gemeinden gesagt wird und das allein schon von einem moralischen Standpunkt die heutige Christenheit weit in den Schatten stellt, ist es anscheinend nicht wert, dass fuer diese weitere Apostel gesetzt worden waeren...

Ein weiteres Argument fuer die 1800jaehrige Hinauszoegerung der Heilsgeschichte sehen die neuapostolischen Kirchenfuehrer in der Tatsache, dass erst im 20. Jahrhundert die woertliche Erfuellung der Jesuworte: "Gehe hin in alle Welt..." moeglich geworden waere. Unabhaengig davon, dass, wenn man die Zahl der heute kontaktierten Menschen und der neuapostolischen Glaeuben selber in Bezug zur Weltbevoelkerung setzt, diese neuapostolische Weltmission auch in hundert Jahren noch nicht zustande zu bringen waere, erhebt sich natuerlich die Frage, wer wann bestimmt, ob die Mission endlich gelungen bzw. die richtige Zahl erreicht worden sei. Das hinreichende Wissen ueber das angebliche Erloesungswerk wird an der Weltbevoelkerung gemessen immer nur bruchstueckhaft sein koennen. Wenn dann gar noch auf ein angeblich biblischerseits begruendbares tausend Jahre dauerndes Friedensreich (10) verwiesen wird, in welchem der grosse Rest der Menschheit mit diesem Heils- und Erloesungswerk konfrontiert werden wird, erhebt sich die Frage, ob diese eher willkuerliche Erwaehlungstheorie und Heilspraerogative nicht viel eher dem jahrtausende alten menschlichen Wunschdenken entspricht, dass die Gruppe Menschen, zu denen man zufaellig gehoert, das auserwaehlte und mit besonderen Vorrechten ausgestattete Volk sei.

(...)

Nach allem bisher geschilderten duerfte es klar geworden sein, dass weder eine Institution genannt "Kirche" noch deren selbsternannte Aemter ausschlaggebend sein koennen, wahre Jesulehre und goettliche Wahrheiten fuer Menschen zugaenglich zu machen. Dies obliegt allein der Herzenseinstellung eines jeden einzelnen – unabhaengig von Amt oder Auftrag. Was Aemter wie Laien gleichermassen bewirken koennen, wenn sie in Demut und eben dieser richtigen Herzenseinstellung stehen, haengt in erster Linie von den von ihrem Schoepfer jeweils empfangenen Pfunden ab, und, wie sie mit diesen gewuchert haben. Dies entspricht auch der jesuanischen Aussage: "...an ihren Fruechten aber sollt ihr sie erkennen!" Was an den Fruechten der neuapostolischen Seelsorgerfunktionaere immer haeufiger zu erkennen ist, laesst manche ihrer Ansprueche sehr fragwuerdig erscheinen. Da hilft dann auch keine noch so kunstvoll hingetrimmte und meist alles vernebelnde Wortakrobatik, denn wie musste Paulus schon die Korinther vermahnen: "Das Reich Gottes steht nicht in Worten, sondern in Kraft!" (1.Kor.4,20)

 

(1) und (2) Kurt Hutten: Seher, Gruebler, Enthusiasten
(3) und (4) und (6) Eugen Drewermann: An ihren Fruechten sollt ihr sie erkennen
(5) schon Paulus wies darauf hin, dass man wahre Jesunachfolger in erster Linie an ihren Fruechten wuerde erkennen koennen
(7) und (9) Kurt Hutten, Seher - Gruebler - Enthusiasten, Stuttgart 1982
(8) Helmut Obst, Neuapostolische Kirche - die exklusive Endzeitkirche?, Friedrich Bahn Verlag, 1996
(10) Die neuapostolischerseits vertretene Lehre ueber ein tausendjaehriges Friedensreich gruendet sich in der Offenbarung des Johannes (Offb. 20, 6). Die dortige Textstelle laesst die Verwendung dieses Begriffes auf eine Zeit nach einer sog. "Ersten Auferstehung" als eindeutigen spaeteren erkennen, der ebenso wie der Begriff der "Ersten Auferstehung" mit den uebrigen Verszeilen weder dem Sinn noch dem Inhalt der Offenbarungstheologie etwas gemein hat. (siehe Aufsatz "Biblizismus")

 

Zurueck zum Vortrag/Kommentar.

Free Web Hosting