Sekten
1. Vorbemerkung 2. Begriff 3. Entstehungsmotive 4. Typologie 5. Staat und Sekten 6. Apologetik: Die Reaktion der Kirchen (Literatur S. 102)
1. Vorbemerkung
Es gibt wohl nicht sehr viele Begriffe, die in der deutschsprachigen saekularen und kirchlichen Oeffentlichkeit so undifferenziert verwendet werden wie der Terminus "Sekte". Aber auch die wissenschaftliche Diskussion weist Unsicherheiten auf, ob und wie im Hinblick auf problematische religioes-weltanschauliche Gemeinschaften von "Sekten" gesprochen werden sollte. Religionswissenschaftler moechten diesen Begriff gerne ganz vermeiden, da er diskriminierend klinge, waehrend kirchliche Apologeten ihn als wichtiges Unterscheidungsmerkmal festhalten wollen. Im Weltmassstab werden die Probleme, selbst auf oekumeischer Ebene in dieser Frage einen Konsens zu erreichen, noch groesser. So unterscheidet sich die religioese Situation in Europa (wo noch die traditionellen Volks- und Staatskirchen vorherrschen) wesentlich von derjenigen etwa in Nordamerika. Dort kennt man aus historischen und anderen Gruenden kein "Gefaelle" zwischen Kirchen auf der einen und Sekten auf der anderen Seite. Alle im christlichen Bereich anerkannten religioesen Gemeinschaften gelten als denomination und damit untereinander als gleichberechtigt. (Diese Vorgabe schliesst jedoch theologische Auseinandersetzungen nicht aus, ebensowenig wie soziologische, psychologische oder juristische Untersuchungen staatlicher Einrichtungen, z.B. Universitaeten, Parlamentsausschuesse u.a.) In verschiedenen anderen aussereuropaeischen Laendern, wie etwa »Australien, »Suedafrika, Brasilien (»Lateinamerika) oder »Korea, in denen es eine ueberwiegend oder doch starke christliche Bevoelkerung gibt, haben es die dortigen Kirchen mit wiederum ganz anderen, von den europaeischen abweichenden religioesen Strukturen und "Sekten" zu tun, die jeweils einer eigenen Analyse beduerften.
2. Begriff
2.1. Sprachlich. Die Ableitung des Begriffs "Sekte" ist nicht ganz eindeutig zu klaeren. Sehr
wahrscheinlich geht er auf das lateinische secta ( = Richtschnur, Schulrichtung) zurueck, gebildet
von sectus, einem nicht erhalten gebliebenen Partizip Perfekt von sequi ( = jemandem
folgen). Das verbum secare ( = abschneiden, abspalten) scheint als Ursprung weniger in Betracht
zu kommen, obwohl eine Verbindung zum Wortsinn von "Sekte" dies nahelegen koente.
Die urspruengliche Bedeutung von secta, so auch in der Vulgata, entspricht dem griechischen
hairesis (»Haeresie I; vgl. auch »Schisma), nach hellenistischem Sprachgebrauch verstanden als
"Partei (Parteiung)", "Schule" oder "Richtung". In diesem Sinne spricht Paulus etwa im Gal 5,20 von
hairesis, Vulgate: sectae. In aehnlicher Weise ist auch die Aussage in Act 24,5
(Vulgate: secta; vgl. 24,14 und 28,22) zu inerpretieren.
Sprachlich ist der Begriff "Sekte" durch die Jahrhunderte bis heute beibehalten worden; er hat sich
jedoch voellig gewandet.
2.2. Phaenomenologisch. Begriff und Inhalt von Sekte existieren nie losgeloest von ihrem
jeweiligen religioesen Umfeld, sondern nur im Gegensatz dazu. Sie setzen im christlichen Kontext die
Kirchen voraus. Erst im Verhaeltnis zu ihnen werden Entstehungsgeschichte einer Sekte und ihre Motive
fue die Separation deutlich (zur Sekten- und Ketzergeschichte vgl. »Haeresie II). Daraus ergibt sich,
dass die Verwendung des Begriffs "Sekte" stets standortgebunden und damit subjektiv-wertend ist. Die
heute von kirchlicher Seite her als "Sekten" definierten religioesen Gemeinschaften verstehen sich
selbst natuerlich nicht als solche, sondern bezeichnen im Gegenteil ihr Gegenueber als
"sektiererisch". So sprechen etwa die »Zeugen Jehovas von den "Sekten der Christenheit" und meinen
damit die traditionellen Kirchen und »Freikirchen. Die »Mormonen sind davon ueberzeugt, dass alle
religioesen Bekenntnisse (ausser ihrem eigenen) "sektiererisch" und "in den Augen Gottes ein Greuel"
seien.
Inzwischen wird der Begriff auch im saekularen Bereich benutzt, um Splittergruppen von grossen
Organisationen oder Parteien bzw. Abweichler von vorgegebenen Meinungen abwertend zu charakterisieren
(Polit-Sekten, Sektierertum in der Wissenschaft usw.).
2.3. Diskussion des Begriffs in der Gegenwart. Die Versuche, zu Beginn des 20. Jh. auf
protestantischer Seite den Sekten-Begriff zu klaeren, waren u.a. von M. »Weber und E. »Troeltsch
gepraegt. Weber definierte "Sekte" als einen "voluntaristischen Verband ausschliesslich religioes-ethisch
Qualifizierter, in den man freiwillig eintritt, wenn man freiwillig kraft religioeser Bewaehrung Aufnahme
findet", waehtrend er unter "Kirche" die religioese Heilsgueter verwantende "Gnadenanstalt" mit
"obligatorischer Zugehoerigkeit" verstand (M. Weber, GAufs. zur Religionssoziologie, Tuebingen, 3 Bde.,
I 1947, 211). Und Troeltsch kam zu dem Ergebnis: "Die Sekte ist die freie Vereinigung strenger und
bewusster Christen, die als wahrhaft wiedergeborene zusammentreten, von der Welt sich scheiden, auf
kleine Kreise beschraenkt bleiben, starr der Gnade des Gesetz betonen und in ihrem Kreise mit groesserem
oder geringerem Radikalismus die christliche Lebensordnung der Liebe aufrichten, alles zur Anbahnung und
in der Erwartung des kommenden Gottesreiches" (Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und
Gruppen, Tuebingen [1912] 1977, 967).
Da sich viele der im Laufe der Zeit zusammengetragenen und bisweilen noch heute angefuehrten Kriterien
fuer eine Sekte (kleine Zahl; Freiwilligkeitsprinzip; soziologische und psychologische Aspekte; besondere
Lebensformen; autoritaere Strukturen; anti-oekumenische Einstellung; elitaeres Selbstverstaendnis;
religioeser Fanatismus u.a.) teilweise auch bei Freikirchen und Gemeinschaften innerhalb der Landeskirchen
bzw. der katholischen Kirche (»Opus Dei; Engelwerk) finden, sind sie fuer sich allein genommen nicht
griffig und ausreichend (vgl. Hutten, Glaubenswelt 16ff.). Von Religionswissenschaftlern wurde deshalb
vorgeschlagen, den Begriff "Sekte" ganz aufzugeben und statt dessen neutraler von "religioesen
Gemeinschaften" oder "religioesen Sondergemeinschaften" zu sprechen (Paul Schwarzenau wollte fuer die
traditionellen Kirchen den Terminus "Kirchentuemer" und fuer Sekten denjenigen der "Sonderkirchen"
einfuehren; vgl. P. Schwarzenau, Das Sektierertum als Frage an die Kirche: Ludwig Schmidt [Hg.],
Gemeindeveranstaltungen. Arbeitshilfen und Entwuerfe, Stuttgart, VII/2 1968, 175).
Aus dem Raum der kirchlichen Sektenforschung hielt Hans-Diether Reimer (1926-1993) den Sektenbegriff
aufgrund der neuen Entwicklungen im religioes-weltanschaulichem Bereich fuer "weitgehend untauglich".
"Anstatt bestimmte Gemeinschaften mit dem Etikett 'Sekte' zu versehen, erscheint es sinnvoll, eine
bestimmte Glaubsn- und Lebenshaltung als 'sektiererisch' zu bezeichnen". Zu den "charakteristischen
Elementen des Sektiererischen" sollten u.a. gezaehlt werden: eine negative Einstellung zu den
traditionellen Kirchen und der gesellschaft als ganzer; Gruppenegoismus und Elitebewusstsein; Ueberbetonung
singulaerer Glaubensaussagen; ethischer Rigorismus; Verengung des religioesen und geistigen Horizontes;
Reduktion der Sprache zu einer Insider-Sprache; autoritaere Strukturen (Reimer, Kirche - Freikirche -
Sekte ... und? Eine begriffliche Klaerung: Materialdienst der EZW 8/88, 233ff.).
Die genannten Vorschlaege zur Vermeidung des Sektenbegriffs haben sich jedoch bisher in Theologie,
Konfessionskunde und kirchlicher Apologetik nicht durchsetzen koennen. Fuer eine zumindest inhaltlich-
theologische Charakterisierung von religioesen Gemeinschaften ausserhalb der Kirchen als "Sekten" scheint
der Begriff noch unverzichtbar.
Die Arbeitsgemeinschaft der Christlichen Kirchen in Deutschland (ACK) moechte den Terminus
"Sekte" auf solche Gemeinschaften anwenden, die
"a) die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments als wesentlich ergaenzungsbeduerftig ansehen
und deshalb den biblischen Buechern weitere gleichwertige Offenbarungsquellen und daraus sich ergebende
Sonderlehren an die Seite stellen, oder aber Teile der Bibel dadurch in den Hintergrund treten lassen,
dass ganz bestimmte Aussagen in der Heiligen Schrift zum Schluessel des Verstaendnisses der gesamten
Bibel erklaert werden;
b) verkuenden, das ewige Heil werde nicht allein im Glauben an Jesus Christus empfangen, und die
darum anderen Heilswegen oder Heilsvermittlern anstelle oder neben Jesus Christus das Wort reden;
c) das Heil ausschliesslich von der Mitgliedschaft in der eigenen Gemeinschaft abhaengig machen
und deshalb um Uebertritt werben und eine Gemeinschaft der Kirchen darum ablehnen, weil sie auf einer
strikten Trennung von anderen christlichen Gemeinschaften bestehen" (Die christlichen Kirchen und die
Sekten. Eine Information der Oekumenischen Zentrale Frankfurt/Main, Juni 1998, 8).
3. Entstehungsmotive
Die Kirchengeschichte zeigt, dass kein der grossen Konfessionen und keine Epoche von Sektenbildung
bewahrt geblieben ist (vgl. Hutten, Glaubenswelt 12ff.). Dabei spielten die jeweilige geistig-kulturelle
Situation, aber auch revolutionaere Umbrueche und allgemeine Katastrophen eine wesentliche Rolle. Neu
aufkommende Sekten verstanden und verstehen sich in erster Linie als Protest- und Erneuerungsbewegungen
gegen wirkliche oder vermeintliche negative Entwicklungen und Defizite der bestehenden Kirchen.
Als Hauptmotive fuer Sektenbildung der Neuzeit lassen sich erkennen:
a) die Sehnsucht nach der Urgemeinde, einer sendlosen "Gemeinde ohne Falten und Runzeln" (Beispiele:
Horst Schaffranek [geb. 1923]; Witness Lee [geb. 1905]);
b) individuelle Erlebnisse: Visionen und Offenbarungen (Joseph Smith [»Mormonen]; Erika Bertschinger
[geb. 1929]; Gabriele Wittek [geb. 1933]; David Berg [1919-1994]; San Myung Mun [geb. 1920]); wundersame
Heilungen (Mary Baker Eddy [»Christian Science]); Berufungen (Joseph Smith [s.o.]; Oskar Ernst Bernherdt
[1875-1941]; Joseph Weissenberg [1855-1941]); innere Stimmen (E. »Swedenborg; Jakob Lorber [1800-1864];
Bertha Dudde [1891-1965]);
c) Endzeitspekulationen (William Miller [»Adventisten]; Charles T. Russell [1852-1916]);
d) Erneuerung des Kultus (Friedrich Rittelmeyer [»Christengemeinschaft]).
4. Typologie
Die gegenwaertig im deutschsprachigen Raum aktiven Sekten gehoeren aufgrund ihrer Entstehung und lehrmaessigen Ausrichtung sowie sonstiger Eigenschaften unterschiedlichen Kategorien an. Da sich jedoch aehnliche oder gleiche Wesensmerkmale bei mehreren Sekten und Kulten ausgebildet heban, scheint eine scharfe Abgrenzung bzw. praezise Kategorisierung nicht immer moeglich zu sein. Die Zuordnung zu einem bestimmten Typus kann deshalb nur im Hinblick auf die von der jeweiligen Gemeinschaft selbst gesetzten Schwerpunkte oder die von aussen feststellbaren Charakteristika versucht werden. In eine solche Typologie gehoeren auch bestimmte Weltanschauungsgruppen, soweit sie biblisch-christliche Elemente aufgenommen und im Sinne ihres "Erkenntnissystems" umgedeutet haben.
4.1. Biblisch-apokalyptisch: Zeugen Jehovas und Bibelforscher-Sekten; "Endzeit-Propheten" mit mehr oder weniger organisierter Gefolgschaft (»Apokalyptik; »Propheten/Prophetie; »Eschatologie). Diese Gemeinschaften orientieren sich an apokalyptischen Bildern und Vorstellungen und richten ihr Alltagsleben ganz auf das von ihnen fuer die nahe Zukunft erwartete Ende der Welt aus. Den Zeitpunkt dieses Weltendes meinen sie anhand biblischer Zahlenangaben und prophetischer Texte errechnen sowie an der gegenwaertigen Weltlage ablesen zu koennen. Dabei werden die kommenden ereignisse nach apokalyptischem Vorbild in duesteren Farben gezeichnet und grell-phantasievoll ausgemalt.
Als Beispiel seien die Zeugen Jehovas angefuehrt: Das wichtigste Stichwort, das ihr Leben und Denken bestimmt, lautet "Harmageddon" (Apk 16,16), worunter sie einen furchtbaren Krieg verstehen, den Gott sehr bald gegen alles Boese der Welt (auch gegen die Nicht-"Zeugen") fuehren wird. "Ja, Blut wird in Stroemen fliessen, wenn Gottes Hinrichtungsstreitkraefte zur Tat schreiten. Die 69 Millionen Toten der zwei Weltkriege werden nichts sein im Vergleich zu den Opfern des Krieges Gottes von Harmagedon" (Wachtturm, 1. Februar 1985, 4).
Als Sonderfall des biblisch-apokalyptischen Typus hat die Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten (»Adventisten) zu gelten, die ebenfalls stark endzeitlich gepraegt ist, jedoch konfessionskundlich nicht in die Kategorie der Sekten gehoert. Die Entstehungsgeschichte (Endzeitberechnungen), die Heiligtumslehre und das exklusive Selbstverstaendnis der Siebenten-Tags-Adventisten (dreifache Engelbotschaft gemaess Apk 14) enthalten zwar erkennbar sektiererische Elemente. Da in ihrer Lehre aber die reformatorischen Prinzipien (solus Christus, sola scriptura, sola gratia) ueberwiegen, sind sie zu den Sondergemeinschaften zu rechnen.
4.2. Apostolisch-endzeitlich: »Neuapostolische Kirche; Apostelamt Juda; Apostelamt Jesu
Christi; Apostolische Gemeinschaft; Hersteld Apostolische Zendingsgemeente u.a.
Gepraegt werden diese Gemeinschaften von der Ueberzeugung, dass Gott am "Ende der Tage" das
neutestamentliche "Apostelamt" wiederaufgerichtet habe, so dass Christus bei seiner Wiederkunft
Strukturen und "Aemter" vorfinden koenne, wie sie angeblich zur Zeit seines Erdenlebens existierten. Die
Apostel, besonders in der Neuapostolischen Kirche, sind nicht nur Amtstraeger, sondern Vermittler des
Heils und der Erloesung. "Die Neuapostolische Kirche ist das wiederaufgerichtete Erloesungswerk des
Herrn" (Neuapostolischer Katechismus Fragen und Antworten ueber den neuapostolischen Glauben,
Zuerich/Frankfurt a.M. 1992, 77); "in ihr wird das von Jesus begonnene Erloesungswerk durch die von
ihm gesandten Apostel vollendet" (ebd. 79).
In der im 19. Jh. in England entstandenen "Mutter"-Gemeinschaft aller neuen apostolischen
Gruendungen, der »Katholisch-apostolischen Gemeinde, waren die beiden Aspekte "Apostelamt" und
"Endzeiterwartung" aufeinander bezogen. In den heute bestehenden Restgemeinden der Katholisch-apostolischen
Gemeinde gibt es das Apostelamt aus historischen Gruenden nicht mehr. An der endzeitlichen Ausrichtung
wird dagegen festgehalten.
4.3. Neuoffenbarung: Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (»Mormonen); Fiat
Lux; Universelles Leben (ehemals "Heimholungswerk Jesu Christi"); Johannische Kirche; die Mun-Bewegung
des Koreaners San Myung Mun ("Vereinigungskriche"); Jakob-Lorber-Leserkreise; einzelne "Neuoffenbarer"
und "Traeger des Inneren Wortes" mit mehr oder weniger organisierter Gefolgschaft (»Offenbarung).
Die zu diesem Typus gehoerenden Sekten sind davon ueberzeugt, dass die Bibel, so wie sie uns
ueberliefert ist, im besten Falle fehlerhaft uebersetzt, im Grunde aber verfaelscht, verstuemmelt und
unvollsctaendig sei. Deshalb habe Gott besondere Menschen beauftragt und mit seinem prophetischen
Geist ausgestattet, um den heutigen Menschen sein "Wort" richtig und vollstaendig zu uebermitteln.
Dieses geschehe durch die "neuen Offenbarungen".
Als Beispiel sei Universelles Leben angefuehrt: "Durch die Lehrprophetin Gabriele Wittek offenbart Gott die tiefsten Wiesheiten, wie sie der Menschheit nie zuvor gegeben wurden, ... in einer nie dagewesenen Klarheit" (Der Christusstaat, Juni 1988, 1).
4.4. Spiritistisch-spiritualistisch: Quelle des Friedens; Geistige Loge Zuerich;
Greber-Foundation; Verein fuer Tonbandstimmenforschung; spiritische Medien mit mehr oder weniger
organisierter Gefolgschaft (»Spiritismus; »Okkultismus).
Die Anhaenger spiritischer Sekten postulieren eine "holistische Wirklichkeit", die aus einer
"grobstofflichen" und einer "feinstofflichen" Ebene besteht. Mit dem in den feinstofflichen Bereich
(Jenseits, Anderswelt) eingegangenen unsterblichen Teil eines Menschen (»Seele, Persoenlichkeitskern)
koenne man durch bestimmte Techniken (Toten-Mikrophone, Ouija-Board, Glaeserruecken) bzw. Medien
(Trance-Medium) in Verbindung treten, um Hilfe, Weisung und Trost fuer das Alltagsleben zu erhalten.
Entsprechende "Kundgaben" aus dem "Jenseits" werden nur an "Geistfreunde" weitergegeben.
4.5. Esoterisch-neugnostisch: Theosophische Gesellschaft; theosophische Splittersekten (I
AM-Bewegung; Fundament des Hoeheren Geistigen Lernens; Universale Kirche); »Anthroposophie;
»Rosenkreutzer; Gralsbewegung (»Theosophie; »Esoterik; »Gnosis; »Synkretismus).
Diese Gemeinschaften basieren auf der Weltdeutung sowie den Visionen und "Einsichten" ihrer jeweiligen
Gruenderpersonen. Hauptmerkmal ist ein stark synkretistisches Verstaendnis von Religion. Die aus dem
christlichen Kontext uebernommenen Bestandteile werden in Richtung Esoterik und Neu-Gnosis umgedeutet.
Fuer Mitglieder ("Schueler") werden okkulte Einweihungsrituale sowie Schulungs- und Erkenntniswege
angeboten, an deren Ende die Selbsterloesung bzw. Vergoettlichung des Menschen stehen kann. Praxis und
Lehre der hoeheren Stufen unterliegen der Geheimhaltung.
4.6. Heiler-Sekten: Bruno-Groeneing-Freundeskreise (nach dem Wunderheiler Bruno Groening
[1906-1959]); Christian Science; kleine, mehr oder weniger organisierte Gemeinschaften oder um
Einzelpersonen gruppierte lose Anhaengerkreise.
Hier steht »Heilung, besser Wunderheilung, im Mittelpunkt von Lehre und Praxis. Die biblisch
bezeugte, zum Menschsein gehoerende Realitaet von Krankheit und Leid wird nicht akzeptiert oder
esoterisch-fernoestlich gedeutet (Krankheit als Disharmonie der "Yin-Yang-Kraefte" im Koerper).
Aus Japan stammen Heiler-Bewegungen wie Mahikari, Johrei und Reiki (mehr als 200000 Anhaenger
in Deutschland), die mit kosmisch-goettlichen Energien zu heilen versuchen. Dazu gehoeren okkulte
Einweihungen fuer Praktizierende (u.a. das Oeffnen der Chakras fuer die kosmischen Energien) sowie
die Benutzung von geheimen Symbolen, Zeichen und Mantras beim Handauflegen (strukturierte Handpositionen).
4.7. Jugend-Sekten: Mit dem Mitte der 70er Jahre gepraegten Begriff "Jugendreligionen" bzw. "Jugend-Sekten" wurden gerade entstandene oder in den deutschsprachigen Raum vordringende, konflikttraechtige religioese Gemeinschaften beschrieben, die sich vornehmlich an junge Menschen wandten. Dazu gehoerten z.B. Kinder Gottes, Hare-Krishna-Bewegung, Scientology, The Way International, Divine Light Mission und die Mun-Bewegung/Vereinigungskirche (»Neue Religionen). Aufgrund veraenderter Altersstrukturen, Werbemethoden und Organisationsformen werden diese Gruppierungen jetzt anderen Sekte-Typen zugeordnet (etwa den Guru-Bewegungen, Psycho-Kulten, Neuoffenbarungssekten u.a.).
5. Staat und Sekten
5.1. Grundsaetzliches. Das Verhaeltnis zwischen dem Staat und den "Religionsgemeinschaften" (»Religionsgesellschaften) in Deutschland wird vom Prinzip der »Religionsfreiheit bestimmt, wie es in Art. 4 Grundgesetz festgelegt ist: "(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religioesen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlcih. (2) Die ungestoerte Religionsausuebung wird gewaehrleistet". Das bedeutet, dass jede religioes oder weltanschaulich gepraegte Gemeinschaft die von ihr entwickelten bzw. akzeptierten Grundlagen, Wertvorstellungen und Ueberzeugungen nach innen verwirklichen kann, sich damit aber auch in der Oeffentlichkeit darstellen und um Anhaenger werben koennen muss. Religionsfreiheit konkretisiert sich fuer den einzelnen darin, ein Bekenntnis zu haben oder auch nicht ( = negative Religionsfreiheit; vgl. Theodor Maunz/Roman Herzog, Kommentar zum Grundgesetz, Muenchen 1994, 23f.). Der Staat hat sich zu srikter Neutralitaet verpflichtet und enthaelt sich jeglicher Einflussnahme auf die Gestaltung des religioes-weltanschaulichen Lebens seiner Buerger.
5.2. Religioeser Extremismus bzw. Missbrauch der Religionsfreiheit. Das Prinzip der
Religionsfreiheit stoesst jedoch an seine Grenzen und kann punktuell ausser Kraft gesetzt werden, wenn
zur Religionsausuebung Praktiken gehoeren, die mit den Wertvorstellungen zivilisierter Laender nicht
uebereinstimmen. Hier waeren etwa Menschenopfer, Kannibalismus, Witwenverbrennung, Polygamie,
Versklavung, Tempelprostitution u.a. zu nennen. Das Grundgesetz will also nicht jede beliebige
Betaetigung des Glaubens schuetzen, sondern nur diejenige, die sich bei den heutigen Kulturvoelkern
auf dem Boden gewisser uebereinstimmender Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung
herausgebildet hat.
Im Rahmen ihres Aeusserungs- und Informationsrechtes sind Landesregierungen legitimiert, vor
problematischen Sekten und Kulten zu warnen (vgl. Baden-Wuerttembergischer Verwaltungsgerichtshof
Mannheim; Aktenzeichen 1 S 182/91). Auch die verfassungsrechtlichen Befugnisse der Bundesregierung
zur Information und Aufklaerung der Oeffentlichkeit schliesse das Recht zu oeffentlichen Warnungen
ein. Gegenstand einer solchen Warnung kann das Wirken einer Sekte oder eines Kultes sein, sofern
hiervon Gefahren fuer die menschenwuerde, das Leben oder die Gesundheit betroffener Buerger ausgehen
(vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes Berlin zur "Transzendentalen Meditation" vom 23. Mai
1989; Aktenzeichen 7 C 2.87).
5.3. Organisationsformen der Sekten. Die meisten Sekten haben entweder die Form eines "eingetragenen Vereins" gewaehlt oder den Status einer "Koerperschaft des oeffentlichen Rechts" beantragt und in begruendeten Faellen von den einzelnen Bundeslaendern auch verliehen bekommen. Koerperschaftsrechte besitzen u.a. die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen), die Neuapostolische Kirche, die Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten, die Christengemeinschaft und die Johannische Kirche. Damit sind die den oekumenischen Kirchen in allen Rechten und Pflichten geleichgestellt.
6. Apologetik: Die Reaktion der Kirchen (»Apologetik III)
Am 7. Juli 1960 beschloss der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland die Errichtung einer
Evangelischen Zentralstelle fuer Weltanschauungsfragen (EZW) mit Sitz in Stuttgart (1995 nach
Berlin verlegt). Es sollte damit an die Arbeit der 1921 gegruendeten und 1937 von der Gestapo
geschlossenen Apologetischen Centrale Berlin-Spandau angeknuepft werden. im November 1994
wurde die "Ordnung der EZW" vom 3. Juli 1964 redigiert und dabei folgender "Auftrag" neu formuliert:
"(§1) Die EZW ist die zentrale Dokumentations-, Auskunfts- und Beratungsstelle der EKD fuer die
religioesen und weltanschaulichen Stroemungen. Die EZW hat den Auftrag, die Entwicklungen im
religioes-weltanschaulichen Bereich zu beobachten und ihre Bedeutung fuer die EKD zu klaeren".
1968 berief die Bayerische Landeskirche den ersten hauptmatlichen "Beauftragten fuer Sekten
und Weltanschauungsfragen" in der EKD. Mittlerweil hat jede der 24 deutschen Landeskirchen einen
"Beauftragten", der seine Aufgabe haupt- oder nebenamtlich wahrnimmt, naemlich die Auseinandersetzung
mit frenden religioesen, geistigen und weltanschaulichen Stroemungen zu fuehren.
Auch die 27 Dioezesen der Roemisch-katholischen Kirche in Deutschland haben inzwischen
Sektenbeauftragte, deren Arbeit von dem entsprechenden Referat der "Katholischen Sozialethischen
Arbeitsstelle Hamm" koordiniert wird.
Literatur
Maximilian Alexander, Die falschen Propheten. Schein u. Wirklichkeit der Sekten, Duesseldorf 1986. - Konrad Algermissen, Konfessionskunde, Paderborn 1930 (8)1969. - Dave Breese, Sekten erkennen u. beurteilen, Asslar 1990. - Kurt-Helmuth Eimuth, Die Sekten-Kinder. Missbraucht u. betrogen, Freiburg/Basel/Wien 1996. - Paul Engstfeld (Hg.), Jur. Probleme im Zusammenhang mit den sog. neuen Jugendreligionen, Muenchen 1981. - Hans Gasper/Joachim Mueller/Friederike Valentin (Hg.), Lexikon der Sekten, Sondergruppen u. weltanschauungen, Freiburg/Basel/Wien 1990 (2)1994. - Ruediger Hauth (Hg.), ... neben den Kirchen. Gemeinschaften die ihren Glauben auf besondere Weise leben wollen, Neukirchen-Vluyn 1979 (10)1995 (BKG 12). - Ders., Kleiner Sekten-Katechismus, Wuppertal 1992 (5)1996. - Ders., Hexen - Gurus - Seelenfaenger, Wuppertal 1994 (3)1999. - Ders. (Hg.), Komapktlexikon Religionen, Wuppertal 1998. - Hansjoerg Hemminger, Was ist eine Sekte?, Mainz/Stuttgart 1995. - HRGem (5)1999. - Kurt Hutten, Seher - Gruebler - Enthusiasten. Das Buch der traditionellen Sekten u. rel. Sonderbewegungen, Stuttgart 1950 (15)1997. - Ders., Die Glaubenswelt des Sektierers. Das Sektenwesen als antireformatorische Konfession, Hamburg 1957. - Bernhard Kosak/Wolfgang Schmieder/Reiner Kahuschke, Religionsgemeinschaften neben den Kirchen, Goettingen 1980. - Ferdinand Krenzer (s.u. Z. Renker). - Egon Larsen, Strange Sects and Cults. A Study of Their Origins and Influence, London 1971. - Walter Martin, The Kingdom of the Cults, Minneapolis, Minn. 196 (24)1977. - George A. Mather/Larry A. Nichols, Dictionary of Cults, Sects, Religion and the Occult, Grand Rapids, Mich. 1993. - Jean-Francois Mayer, Les Sectes et vous, Paris/Freiburg i. Ue. 1989; dt. (erw. u. aktualisierte Fassung): Mit Sekten konfrontiert, Freiburg i. Ue. 1995. - Helmut Obst, Apostel u. Propheten. Gruender christl. Religionsgemeinschaften des 19./20. Jh., Berlin (2)1981. - Z. Renker (Ferdinand Krenzer), Unsere Brueder in den Sekten, Limburg 1964. - Hugo Stamm, Sekten. Im Bann v. Sucht u. Macht, Zuerich 1995. - Paul-Guenter Weber, Religiositaet u. soziale Organisationsformen in Sekten, Koeln/Wien 1975. - Brian Wilson, Religious Sects, London 1970.