Artikel "Vor 25 Jahren starb der 'letzte' Stammapostel".
(publiziert in "Materialdienst der Evangelischen Zentralstelle fuer
Weltanschauungsfragen", 48. Jahrgang, 1. August 1985)
(Letzter Bericht: 1985, S. 114ff) Die Zeitschrift "Unsere Familie" brachte
auf dem Titelblatt ihrer ersten Julinummer das Bild eines freundlich
bluehenden Grabes. "Johann Gottfried Bischoff" steht auf einem ein-
fachen Marmostein im Bockenheimer Friedhof in Frankfurt. Kaum ein Passant
ahnt heute, welch ein dramatisches Geschehen mit diesem Mann und seinem
Ableben verbunden war.
Am 6. Juli jaehrte sich zum 25sten Mal der Tod des damaligen Stammapos-
tels. Er markierte eine tiefe Erschuetterung im Glauben der neuaposto-
lischen Christen, denn achteinhalb Jahre zuvor, an Weihnachten 1951, hatte
der damals schon Achtzigjaehrige als "Wort aus dem Geist des Herrn" ver-
kuendet: "Ich bin der Letzte, nach mir kommt keiner mehr. So steht es im
Ratschluss unseres Gottes, so ist es festgelegt und so wird es der Herr
bestaetigen. Und zum Zeichen sollt ihr das haben, dass der Herr in meiner
Zeit kommt, um die Seinen zu sich zu nehmen" (nach K. Hutten, "Seher,
Gruebler, Enthusiasten", 12. Auflage, S. 507).
Von vielen Christen innerhalb und ausserhalb der Neuapostolischen Kirche
wurde die Unerhoertheit dieser so selbstsicher mitgeteilten "Offenbarung"
sofort erkannt: Wieder einmal war hier eine ganz konkrete Heils- und Er-
loesungshoffnung in apokalyptischer Weise geschichtlich fixiert worden.
Eine solche Botschaft musste die Glaeubigen im Zentrum ihres Glaubens
treffen, sie erschuettern und zur Entscheidung zwingen. Was ist, wenn sie
sich als falsch erweisen sollte? Widerspruch regte sich, und es kam zu
erneuten Abspaltungen im In- und Ausland. Je mehr Zweifel und Opposition
sich erhob, desto verpflichtender wurde "die Botschaft" gemacht. Bald war
sie "zu einem zentralen und heilsnotwendigen Glaubenspunkt erhoben worden,
und J.G. Bischoff hatte fuer diese Sache die ganze Autoritaet seines Amtes
in die Waagschale geworfen", so las man im "Materialdienst" des Jahres
1960 (S. 197), in dem eine ausfuehrliche Schilderung der "Botschaft von
der Wiederkunft" und der "Spaltungen bei den Neuapostolischen" vorange-
gangen war (Nr. 1 - 11, 1956). -
Sehr im Unterschied zu den Zeugen Jehovas mit ihren rational durchkalku-
lierten Terminberechnungen (vgl. MD 1976, S. 290ff) hatte J.G. Bischoff
selbst fest an die Botschaft geglaubt, die er, wie er behauptete, von
Jesus persoenlich erhalten hat. "Der Herr hat mir geoffenbart, dass er
zu meinen Lebzeiten kommt. Darueber gibt es fuer uns keinen Zweifel",
sagte er noch in seiner zweitletzten Ansprache am 3. April 1960 in der
Berliner Deutschlandhalle vor ueber 13000 Zuhoerern. Und er fuhr fort:
"Selbstverstaendlich werden wir im Glauben heftig angefochten; aber das
ist eine Erscheinung, die mit der Vollendung zusammenhaengt."
Wie von selbst gleitet die Rede von der Einzahl in die Mehrzahl. Was
fuer den Stammapostel gilt, das hat auch fuer die uebrigen Apostel und
Glaubensgeschwister zu gelten. Und fuer den Fall, dass die Anfechtungen
zu stark werden, ermuntert der Stammapostel: "Wir duerfen doch nicht glau-
ben, dass der liebe Gott einen solchen Fehler machen wuerde und wuerde
seinem Volke eine Zusage geben, die sich nie erfuellen wuerde" (in einem
Gottesdienst in Reutlingen). Dass vielleicht er einen Fehler gemacht hat,
indem er das fuer goettliche Botschaft ausgab, was ihn als glaubenden
Menschen bewegte, das aeussert er nie. Das wuerde doch gegen das Grund-
dogma der Neuapostolischen Kirche verstossen, demgemaess Gott selbst in
dieser Zeit "den Gnadenstuhl auf Erden aufgerichtet" und den Stammapostel
zu "seinem obersten Diener" erwaehlt hat. "Er ist fuer uns vom Herrn
bestimmt." Das unfehlbare Vornehmen des goettlichen Wortes und der willige
Gehorsam ihm gegenueber kann bei den Amtstraegern nicht in Zweifel gezogen
werden, denn beides ist nach dieser Auffassung mit dem "Gnaden- und Apos-
telamt" selbst gegeben!
Kurz nach Ostern 1960 erkrankte der 89jaehrige Stammapostel und wurde im
Kreis der Familie in Frankfurt betreut. Am 5. Juli fuhr man ihn zu einer
geplanten Operation ins Krankenhaus nach Karlsruhe, wo er am Abend des
folgenden Tages in den Armen eines neuapostolischen Arztes starb. In
einem Wort an die Gemeinden, das die 27 Apostel nach der sofortigen
(einstimmigen) Wahl des bisherigen Stammapostelhelfers Walter Schmidt
zum neuen Stammapostel hinausgehen liessen und das am Sonntag, dem 10.
Juli, ueberall verlesen wurde, hiess es:
"Wir alle haben aus Ueberzeugung geglaubt und gehofft, dass der Herr die
Seinen nach der dem Stammapostel gegebenen Verheissung noch zu seiner Le-
benszeit zu sich nehmen wuerde. Das war auch der unerschuetterliche Glaube
des Stammapostels, den er seiner Umgebung bis in die letzte Stunde seines
Hierseins bezeugt hat. Sowohl er wie auch wir und alle mit ihm treu ver-
bundenen Brueder und Geschwister haben niemals daran gezweifelt, dass der
Herr die ihm gegebene Verheissung zur gegebenen Zeit auch erfuellen wuer-
de. Wir stehen deshalb vor dem unerforschlichen Ratschluss unseres Gottes
und fragen uns, warum er seinen Willen geaendert hat. Der Stammapostel,
der das Erloesungswerk des Herrn auf den hoechsten Stand der Vollendung
gebracht hat und dadurch die Kinder Gottes in einem unerschuetterlichen
Glauben an sein Wort fesselte, kann sich nicht geirrt haben, weil er
immer das Wort des Herrn zur Richtschnur seines Handelns gemacht hat. In-
folgedessen hat er uns niemals etwas anderes gesagt als allein das, was
er zuvor vom Herrn auf den Geist gelegt bekommen hatte."
Im Trauergottesdienst am Morgen des 11. Juli sagte Walter Schmidt: "Sein
Leben kann nur vom Standpunkt der Ewigkeit richtig bewertet und beurteilt
werden, denn es hatte seine Bestimmung vom Throne Gottes erhalten. Diese
Bestimmung war grundlegend fuer das Wirken des Entschlafenen. Ein Bot-
schafter an Christ Statt, ein Gesalbter des Herrn, ein Diener Gottes hat
unter uns gewirkt und Grosses getan."
Und nochmals die gemeinsame Erklaerung des Apostelkollegiums: "Hat der
Herr uns durch die Hinwegnahme des Stammapostels vor Raetsel gestellt,
so wird er uns auch an seinem Tage hierzu seine Antwort geben. Die
Apostel sehen ihre hohe Aufgabe nach wie vor darin, das Vermaechtnis
des Stammapostels, seinen Glauben an das baldige Kommen des Herrn, zu
hueten und zu pflegen, so, als sei er noch unter uns; denn es ist und
bleibt die Sache des Herrn, und er wird sie zu Ende fuehren."
Schon diese wenigen Saetze koennen die Richtung aufweisen, in der die
Glaubenskrise der ersten Tage und Wochen ueberwunden wurde. Das, was in
all den Jahren zuvor von Amts wegen konkrete Botschaft war, wurde nun
wieder in den unerforschlichen Ratschluss Gottes zurueckverlegt. Damit
wurde sie vor dem kritischen Zerpfluecken geschuetzt und die Gemeinde
vor dem Streit der Meinungen und Richtungen bewahrt. Das Vergangene
wurde vielmehr insgesamt zu einem Stueck Schicksal des Gottesvolkes auf
seinem Weg mit dem Herrn.
Biblische Parallelen tauchten als Deutungshilfen auf: Mose hatte
entgegen der urspruenglichen Verheissung Gottes das gelobte Land nicht
mehr betreten duerfen, sondern war kurz vor der Ueberschreitung des
Jordan gestorben. Und Abraham war durch das unbarmherzige Gebot
Gottes , seinen einzigen Sohn Isaak zu opfern, von Gott in seinem Glau-
ben geprueft worden, um dann eine ganz neue Weisung zu erhalten...
Noch eine weitere Beobachtung draengt sich auf: Nun wurde ploetzlich der
Glaube als Haltung, als fromme Hingabe an Gott und sein Glaubenswerk
so gross herausgestellt, dass alle Fragen nach dem Glaubensinhalt
ueberdeckt wurden. Kurt Hutten bemerkt sehr treffend, dass damit die Tie-
fenschichten des neuapostolischen Glaubens zutage traten: Nicht Wahrhei-
ten, Lehren, bekenntnishafte Formulierungen kennzeichnen diesen Glauben;
vielmehr ist er in erster Linie ein lebendig gelebter Glaube, der in der
Heilsgemeinschaft und der Glaubenstreue seinen Schwerpunkt hat, in der
geschenkten Gottesgewissheit und der sichtbaren Gottesgegenwart, vermit-
telt durch seine Stellvertreter auf Erden: die Apostel.
In diesem Sinne konnte in dem Wort an die Gemeinden der Verstorbene als
Glaubensvorbild hingestellt werden. Und auf seinem Grabstein wurde
"Offenbarung 20, Vers 6" eingraviert: "Selig und heilig ist der, der teil-
hat an der ersten Auferstehung. Ueber solche hat der zweite Tod keine
Macht; sondern sie werden Priester Gottes und Christi sein und mit ihm
regieren tausend Jahre."
In diesem Sinne wurde auch die Einheit der Apostel als Gewaehr fuer
einen guten Weiterweg in die Zukunft stark hervorgehoben: "Es moege Euch
zur Beruhiging dienen, dass saemtliche Apostel auch ueber das Grab des
Stammapostels hinaus das voellige Einssein nach dem Willen Jesu bekunden
und in diesem Sinne ohne Unterbrechung an der Vollendung der Brautseelen
arbeiten werden."
In diesem Sinne wurde besonders die Treue ueber alles gepriesen: "Die
Getreuen sind auch jetzt nicht vom schmalen Pfad gewichen ... und sind
beim Herrn geblieben", sie "fuegten sich willig unter Gottes Tun" (Fried-
rich Bischoff). Ja, es gelang das Unglaubliche: das Scheitern einer Pro-
phetie konnte unter der Hand in ein Glaubenswunder vor der Welt ver-
wandelt werden: "Wir haben in diesen Wochen das groesste Wunder erlebt,
das in der Kirche Christi in dieser Zeit geschehen ist ... Niemand haette
denken koennen, dass nach so wenigen Tagen die Gemeinde des Herrn wieder
gefestigt dasteht. Unserer Umwelt ist das ein Raetsel. Uns sind die Zu-
sammenhaenge klar: Das hat der Herr getan ... Der Herr hat aus dem Raetsel
ein Wunder gemacht." (Stammapostel Schmidt am 14. August in Frankfurt)
Der "liebe Gott" ist also auch in dieser schweren Zeit nachweislich bei
den Seinen, und die alte Hoffnung, dass die "Brautgemeinde" moeglichst
vollzaehlig in die Vollendung eingehen moege, bleibt als das grosse Ziel
unverrueckt vor Augen. Deshalb mussten alle damals an die neuapostolischen
Glaeubigen gerichteten Aufrufe seitens der uebrigen Christen und auch der
abgesprungenen Glaubensbrueder wirkungslos bleiben. Sie richteten sich ja
direkt gegen jene Glaubenserfahrung, um die es in dieser besonderen Situ-
ation der Bewaehrung nun in erster Linie ging: die Einheit der Glaeubi-
gen mit ihren Hirten und ihrem Herrn. Weil die neuapostolischen Christen
allein diese Glaubenseinheit und -treue als Sieg ueber die Anfechtung
vorweisen konnten, was natuerlich kein direktes Gegenargument gegen die
Vorhaltungen ihrer Kritiker war, deshalb kann man es ihnen nicht nur als
Verstocktheit auslegen, wenn sie der alten Regel ihrer Glaubensgemein-
schaft folgten: sich von "der Welt" abwandten und schwiegen. -
Aus der Distanz der inzwischen verflossenen zweieinhalb Jahrzehnte ge-
sehen erweisen sich die neun Jahren unter der Endzeitbotschaft des
Stammapostels Bischoff als ein Intermezzo im Rahmen der Gesamtge-
schichte der Neuapostolischen Kirche. Und es waere falsch, die Wirren
jener Zeit noch heute staendig herauszustellen. Endzeitberechnungen,
neue Offenbarungen oder ueberhaupt Lehrbesonderheiten kennzeichnen diese
Glaubensgemeinschaft nicht. Andererseits freilich haben die apokalyp-
tischen Beeindruckungen eines Einzelnen in dieser Gemeinschaft nur des-
halb eine so bestuerzende Wirkung haben koennen, weil hier eine Aemter-
struktur vorhanden ist, welche besonders dem obersten Amtstraeger -
als Stellvertreter Gottes - eine fast unbegrenzte Autoritaet verleiht.
Diese tief im neuapostolischen Glauben verankerte hierarchische Struk-
tur ist noch heute ungeschmaelert in Geltung. Deshalb ist hier der Punkt,
an dem eine christliche Apologetik einzusetzen hat.
Dr. Hans-Diether Reimer
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