Aposteln und Propheten
Erinnerungen aus meinem Leben
von
Luise Kraft
Vorwort des Herausgebers
Die nachfolgenden Aufzeichnungen sind nicht im Hinblick auf eine spaetere Veroeffentlichung entstanden. E i n e   h e s s i s c h e   B a u e r s f r a u aus einem abgelegenen Doerfchen der Marburger Gegend hat nach des Tages Last und Muehen ihre wechselreichen Schicksaele fuer einen engeren Bekanntenkreis niedergeschrieben. Nach und nach haben sich die Blaetter zu einem umfangreichen Band vereinigt, den sie auf Zureden ihrer Freunde schliesslich mit einigem Widerstreben in meine Haende legte. Es war nicht leicht, aus der Fuelle des Stoffes eine Auswahl zu treffen, die zur Drucklegung geeignet erschien; denn L u i s e   K r a f t hat mit ihrem Tagebuch eine Zwiesprache vorwiegened vertraulicher Art gepflogen. Sie hat mit den Leuten, die ihren Lebenspfad unlebsam kreuzten, scharf abgerechnet und am allerwenigsten sich selbst geschont, andrerseits aber auch mit aufrichtiger Dankbarkeit derer gedacht, die ihr ehrlichen Sinnes zur Seite standen.
Wenn ich in erster Linie die Erlebnisse unter den Neu-Apostolikern herausgriff, so wurde ich von dem Gedanken geleitet, es duerfte wohl kein ganz unverdienstliches Beginnen sein, dem Leser einen Blick in die Seelenkaempfe tun zu lassen, denen denkende Anhaenger mancher religioesen Sondergruppen ausgesetzt sind, und den einen oder andren zur Vorsicht zu mahnen, falls es schon auf halbem Wege ist, seiner Landeskirche den Ruecken zu kehren und sich einer der nicht nur kirchenfeindlichen, sondern auch kulturhinderlichen Sekten anzuschliessen, die in unsrem Hessenland selber so stark vertreten sind. Es mangelt zwar nicht an sachwissenschaftlichen Schriften, die ihre Entstehung aehnlichen Erwaegungen verdanken, hier aber redet nicht der kuehl ueberlegende und kritisch sondernde Geist - hier spricht das heilverlangende Herz einer leidenschaftlichen Gottsucherin, die sich ihren Frieden wahrlich sauer genug erkaempfen musste.
Die weiteren Aufsaetze volkskundlicher Art habe ich zum Teil schon deshalb angefuegt, um zu zeigen, dass sich die Verfasserin aus ihrer bornenvollen Pilgerfahrt ein koestliches Gut, die Heiterkeit des Gemuets, in ihr hohes Alter hinuebergerettet hat.
Meine Taetigkeit als Bearbeiter des vorliegenden 3. Baendchens der "Hessischen Lesestube" konnte sich im uebrigen darauf beschraenken, die Ausfuehrungen Frau Krafts in das Gewand der zeitgemaessen Rechtschreibung zu kleiden, waehrend ich am Inhalt und an der Darstellungsweise, ausser einigen belanglosen Streichungen, nichts geaendert habe.
Niedereisenhausen, Kr. Biedenkopf, im Dezember 1913.
"Denkt mal", erzaehlte der alte Johann, "was ich da erfahren habe, in Aarheim predigt naechsten Sonntag ein "Apostel", und auch ein "Prophet" ist dort, es sollen sich da Wunderdinge in einer gewissen Versammlung zutragen. Unter andrem wuerde von der Zukunft des Herrn geweissagt, und dieselbe stehe in naechster Zeit bevor."
So und noch mehr erzaehlte der Alte.
"Wir gehen einmal hin", erklaerte einstimmig die kleine Saengergemeinde von Nidlau, Versheim und Strackdorf.
Gesagt - getan. Zur bestimmten Stunde fanden sich alle ein, darunter auch ich, mehr aus Neugierde als aus irgend einem andren Grunde.
Ich war ziemlich enttaeuscht, als ich statt einer grossen Versammlung nur einige Leute aus Aarheim in einem kleinen Zimmer versammelt fand, die Glieder der neuapostolischen Gemeinde und noch einige Frauen, die noch nicht dazu gehoerten. Wir kamen sehr willkommen, und die Predigt gestaltete sich zu einer wahren Nervenpredigt. Tief erschuettert sassen wir da unter dem Schall der "apostolischen" Worte; man glaubte noch nie so etwas gehoert zu haben, d.h. solche Bibeldeutung! Der Rufe ertoente mit der Donnerstimme des "Apostels": "Eile und errette deine Seele!" Der ganze Inhalt drehte sich um die bevorstehende grosse Truebsal, von der in der Offenbarung Johannis geschrieben steht, dann von der Rettung der 12 000 Versiegelten aus allen Staemmen Israels - natuerlich des neuen, geistlichen Israels. "Es wird sein wie zur Zeit Noahs, bis Noah in die Arche ging." Jetzt sei nun eine "geistige" Arche errichtet, denn Jesus sagte ja: "Meine Worte sind Geist und sind Leben." Diese Arche sei die "N e u e A p o s t o l i s c h e G e m e i n d e", was auch noch damit bestaetigt sei: "Die Ersten werden die Letzten sein, und die Letzten werden die Ersten sein", d.h. die Ersten seien Apostel gewesen, und die Letzten wuerden wieder welche sein in der Kirche. Jesus habe gesagt: "Wer euch hoeret, der hoeret mich", mithin wohne Jesus i n den Aposteln und rede s e l b s t. Er sei das A und das O, der Erste und der Letzte, also am Anfang der Kirche und nun derselbe am Ende der christlichen Kirche i n seinen Aposteln. Die "Versiegelung" bewahre vor der grossen Truebsal, d.h. wer das Zeichen an seiner Stirne trage gleich wie das Blut des Lammes an den Tuerpfosten der Kinder Israels, als der Wuergengel die Erstgeburt unter den Egyptern schlug.
Das alles aber lautete ganz anders als meine Erzaehlung hier, es lag mehr darin als blosse Bibeldeutung. Ein maechtiger W i l l e , eine unwiderstehliche Suggestion, wovon wir und damals tausend andre in der Welt keine Ahnung hatten und somit derselben unterlagen. Bis dahin freilich noch nicht vollkommen, denn der eigne Glaube, die bisherige Ueberzeugung war noch nicht vollkommen in uns besiegt. Waehrend der "Apostel" unsre Herzen unter dem Hammer hatte und bearbeitete durch eine noch nie gehoerte Art des Predigens, sass nebenan ein schlottriges Maennchen, das zottelte und zappelte und wurde wie von einer unsichtbaren Macht vom Stuhl in die Hoehe geschleudert und wurde ganz entstellt. Ich dachte nicht anders, als es sei ein Epileptiker, oder so etwas wie Beitstanz; ich konnte mir gar nicht erklaeren, dass man es so zappeln liess und sich niemand um es kuemmerte.
An den "Propheten" hatte ich gar nicht mehr gedacht, ich war mit meinen Gedanken gaenzlich bei den Ausfuehrungen des "Apostels". Schliesslich, als das Zucken und Stampfen des unscheinbaren Maennchens zu uebermaessig wurde, hielt der "Apostel", ein gewesener Schlosser, inne, und das Kerlchen schnellte in die Hoehe und schrie maechtige Worte in die Versammlung hinein, worueber ich so erschrak, dass ich den Inhalt nicht verstanden habe. Das war "g e w e i s s a g t!"
Der Mann des Hauses sass da mit geschlossenen Augen, zitterte und zuckte zuweilen mit den Gliedern und warf abgebrochene Saetze hin - auch "Weissagung". Natuerlich bezog sich das alles auf die auserwaehlte Gemeinde. Zum Teil waren es Bestaetigungen der Predigt und Einladungen und Mahnungen zum Einsteigen in die "Arche", bevor die geistige Suendflut - die grosse Truebsal hereinbrechen wuerde.
Als die Predigt beendet war, wurden wir zu einem Glied der apostolischen Gemeinde zum Kaffee eingeladen. Wir gingen hin, denn es galt mir darum, der Sache naeher auf den Grund zu kommen. Unter anderm hielt ich ihnen vor: "Zeit und Stunde weiss niemand" und "es werden falsche Propheten kommen". O wie kuenstlich wurden da meine Einreden widerlegt und Beweise zugunsten ihrer neuen Gemeinde vorgebracht! Wenn von f a l s c h e n Propheten die Rede waere, so sei das doch ein klarer Beweis, dass es auch r e c h t e gaebe, und wenn Jesus gesagt habe, Zeit und Stunde wisse niemand, so habe er aber doch die Zeichen angegeben und gesagt: "Wenn ihr solches alles werdet sehen, alsdann hebet eure Haeupter auf, denn die neue Erloesung naehet sich." Hauptsaechlich musste 1. Kor. 12 herhalten, wie die ersten Gemeinden mit Gaben seien ausgestattet gewesen, welche die Kirche im Lauf der Jahrhunderte gaenzlich verloren habe, nun aber mit den "Aemtern" - der Kirche der letzten Zeit - wieder geschenkt worden seien. Unter der Macht solcher Beredsamkeit war meine Widerstand schon halb gebrochen.
Am folgenden Sonntag, als Peter, mein Mann, auf einem Missionsfest und ich mit den Kindern allein zu Hause war, klopfte es an die Tuere, und die drei Brueder von Aarheim traten herein mit einer Freudigkeit und Freundlichkeit, der ich nicht anders als auf dieselbe Weise begegnen konnte. Jetzt gab es Fortsetzung. Auf meine Frage, ob man als apostolisches Gemeindeglied bei der L a n d e s k i r c h e bleiben duerfe, kam die Antwort etwas kleinlaut, aber doch in dem Sinne, das stehe bei jedem Mitglied selbst, es koenne bleiben, wenn es w o l l e. Nun ja, dachte ich, wenn ich bei der Landeskirche bleiben und die herrlichen Gaben noch nebenher haben kann, warum sollte ich nicht beitreten, wo doch so herrliche Sachen erzaehlt werden und ausser den berufenen Aposteln noch andre Glieder die Gabe der Weissagung besitzen? Die biblischen Beispiele wurden dann aufgefuehrt, und ich selbst suchte mich zu ueberzeugen und las nunmehr in der Bibel nur in Bezug auf jene Gesellschaft.
Haette ich damals gewusst und verstanden, was ich heute weiss - ich haette meinen Willen nicht auf den Goetzenaltar gelegt, ich waere stark genug gewesen zum Widerstand, aber ich wusste nichts von den Begleiterscheinungen des Hypnotismus und beugte meine Kniee vor dem "Apostel" in der Meinung, vor J e s u zu knieen, und liess unter seiner Hand und seiner Willensmacht mich mit seinem Magnetismus ueberstroemen und glaubte in der Durchrieselung meiner Nerven die Wirkung des Heiligen Geistes zu verspueren.
Lieber Leser, laechle nicht spoettlich ueber die dumme Lisa! Da haben sich schon Leute mit ganz andrem Verstand und aus ganz andrem Stand unterjochen lassen. Es ist auch was andres, ob man so etwas nur erzaehlen hoert, oder ob man es persoenlich erlebt hat.
Heute, wo ich durch Gottes Gnade, wenn auch durch Kaempfe auf Leben und Tod, wieder frei bin von dem Bann, wo ich selbst wieder denken kann, ohne einen fremden Willen und fremde Gedanken zu beherbergen, werfe ich keinen Stein auf die Abertausende von gebundenen Leuten; weiss ich doch, welch viele gute Christen und ernstsuchende Menschen dem Irrtum verfallen sind und sich unbewusst zu Ueberschwaenglichkeiten verstiegen haben und ihre Auswahl stuetzen auf das "Siegel" auf ihrer Stirn - ein von dem "Apostel" mit dem Finger beschriebenes Ringelchen. Das ist in der Meinung dieser bekoerten Leute ein Heiligtum, obwohl es bei vielen auch das einzige "Heilige" ist, was sie an sich haben, ich meine, dass sie eben nicht besser und schlechter sind als der Durchschnitt aller andren Leute. Haette ich nicht an den Fuehrern, den sogenannten Traegern der vier "apostolischen Aemter", Dinge gefunden, die aus der Hoelle geboren waren, so haette ich mich meiner Fesseln nicht entwunden, oder auch nur zu entwinden gewagt.
G o t t l o b , i c h   b i n   f r e i !
Es war im Jahre 1830, als man in England anfing, ernstlich um eine neue Ausgiessung des heiligen Geistes zu beten und die Erhoerung mit Bestimmtheit erwartete. Es geschah, dass sich wirklich die Zeichen einer Ausgiessung bemerkbar machten und Maenner anfingen zu weissagen, andre wieder Gesichte hatten, wieder andre mit fremden Zungen redeten und noch vieles mehr.
So erzaehlte der "Apostel" mit vieler Ausfuehrlichkeit und erzaehlte weiter, wie alsdann die apostolische Kirche mit ihren 12 neuen Aposteln entstanden sei. Man habe die Anhaenger dieser Kirche nach ihrem Stifter Irving die Irvingianer genannt. Als nun die Ankunft des Herrn sich verzoegert habe und alle Apostel bis auf einen, noch in England lebenden, gestorben seien, habe dieser irvingianische Kirche keine weiteren Apostel mehr anerkennen wollen, trotzdem fortwaehrend durch Prophetenmund der Geist aufgefordert habe, neue Apostel anzuerkennen. Demzufolge habe sich die n e u e Gemeinde mit neu berufenen Aposteln gebildet, um die Brautgemeinde zu bilden und diese dem Herrn bei seinem Kommen entgegenzufuehren. Nunmehr bezeuge der Geist in allen apostolischen Gemeinden: "Siehe, ich komme bald!" Es sei kein Saeumen mehr, die Zahl sei bald voll, und in Gesichten werde gezeigt, dass nur noch wenige Hochzeitskleider vorhanden seien. Die Entrueckung wuerde ueberall durch Weissagung kund gegeben, und es sei eine grosse Gnade, noch in letzter Stunde der Truebsal zu entrinnen.
Nicht selten geschah es, dass bei derartigen Belehrungen ein "Prophet" oder - wenn keiner zugegen war - eine weissagende Jungfrau ploetzlich dazwischen rief: "So spricht der Herr: Siehe, ich komme bald!" Mitunter auch: "Eile und errette dich! - Ja, so spricht der Herr! - Ich habe dich erwaehlet!" und dergleichen Saetze mehr. Waere das alles so einfach hergegangen, wie ich es hier erzaehle, und die neuen Ankoemmlinge waeren in solcher Verfassung gewesen wie vielleicht die Leser dieses Berichts - ja dann! Aber es ist eine Eigenschaft dieser Gemeinde, dass ihre Mitglieder, besonders die Fuehrer, das Beeinflussen, das Einwirken auf empfaengliche Naturen, das Uebertragen ihrer eignen Ideen mit einer Faehigkeit und Ausdauer fortsetzen, bis der andre Teil unterliegt und das Unglaublichste als reine Wahrheit in sich aufnimmt. Bewusster und unbewusster Hypnotismus auf religioesem Gebiet, geheimnisvoller Zwang zur unwillkuerlichen Anerkennung des "Apostels" und seiner goettlichen Autoritaet und willenlose Beugung unter die "Aemter". G l a u b e, u n b e d i n g t e r G l a u b e a n d e n i m A p o s t e l f l e i s c h g e w o r d e n e n J e s u s, somit Anerkennung alles dessen, was er sagt und befiehlt, nicht die geringste Widerrede - das sind die Grundbedingungen fuer die im Geist gebundenen "Schafe", die hinfort nur der Stimme des "Apostels" folgen muessen, nachdem ihnen das Wahrzeichen, das "Siegel" auf die Stirne gedrueckt ist.
Was waren das doch fuer herrliche Dinge, von denen mir erzaehlt wurde; und diese nun selber zu besitzen, wie selig musste man sein! Doch erst mussten die Bedingungen erfuellt werden: Glauben, Versiegelung empfangen. Ich ging zum Herrn Pfarrer und erzaehlte demselben alles, was ich in der apostolischen Versammlung gehoert und gesehen hatte und wie das alles mit der Bibel stimme, da man doch die Vorgaenge gewahre, von denen 1. Kor. 12 die Rede sei. Der Herr Pfarrer wusste mir nicht zu raten und meinte schliesslich, wenn ich der festen Ueberzeugung sei, so koenne er nichts dagegen sagen. Ich liebte und ehrte meinen Pfarrer und wollte gewiss nicht von der Landeskirche lassen, denn die auf diesen Punkt bezueglichen Grundsaetze der apostolischen Gemeinde wurden mir vorerst noch geheimgehalten, bis ich mit meinen Freunden und Freundinnen in der Falle sass. "Ihr koennt bei der Kirche bleiben, wenn ihr wollt" - dieses Wort wurde zwar nicht widerrufen, aber ein ueber das andre Mal wurde unter kramphaften Zuckungen geweissagt: "Ziehe, heraus, mein Volk, aus Babel, dass ihr nicht teilhaftig werdet ihrer Suenden und etwas empfanget von ihren Plagen, so spricht der Herr!" Da gab es von selbst andre Gedanken. Die Kirche - ein Babel? Andre Vereinigungen und Sekten - Buendel, die ins Feuer der grossen Truebsal kommen? Und die "Versiegelten" sind der Weizen, der in den Scheunen gesammelt und vor der Truebsal bewahrt wird und nachher die Regenten im tausendjaehrigen Reich ueber die, so aus der Truebsal hervorgegangen und uebrig geblieben sind? Hiess es da fuer die Glieder der Gemeinde nicht alles aufbieten, alles befolgen, was der Herr durch den Mund seiner "Propheten" sagt, um nicht am Ufer als fauler Fisch gefunden zu werden? Hat nicht der Herr Jesus auch seinen heutigen "Aposteln" befohlen: "Werfet euer Netz in das Meer der Christenheit, auf dass ihr einen Zug tuet?" Nicht mehr wie frueher: "Geht hin in alle Welt!" - nein, holt euch die Besten aus der Christenheit heraus! Schrecklich, wenn nun die Fischer einen gefangenen Fisch als faul und unbrauchbar erfinden! Die Furcht, lieber Leser, huetet den Wald, die F u r c h t v e r h u e t e t a u c h d e n R u e c k t r i t t a u s d e r a p o s t o l i s c h e n G e m e i n d e, eine Suende wider den heiligen Geist, die niemals vergeben wird.
Uebrigens fiel das uns begeisterten Anhaengern ja auch gar nicht ein, am allerwenigsten mir, die ich damals - 1894 - eine noch recht ruestige Frau war. Ich hatte die ganze Lehre bald erfasst und verstand es, den Inhalt der Bibel fuer die Richtigkeit der Lehrsaetze dieser Versammlung von "Auserwaehlten" nach Belieben zu formen, ich glaubte fest und steif die unglaublichsten Dinge. Ich hielt mich fuer ein bevorzugtes Glied der Braut Christi und freute mich der baldigen Heimholung, ich war stolz, wenn "Jesus", d.h. der "Apostel" mit seiner Familie und den uebrigen Dienern, die auch Anspruch darauf machten, Jesus selbst rede durch i h r e n Mund, bei mir einkehrten, statt bei wohlhabenderen Nachbarn. Dass dabei der Haushalt Not litt, ist selbstverstaendlich. Doch das schadet aber nichts, die kurze Zeit bis zur Entrueckung hatte man ja noch zu leben! Einer der neuen Anhaenger war sogar so toericht, es den Leuten bei der Schmiede zu sagen, dass er keinen Pflug mehr machen lassen wollte, da er ihn jedenfalls naechstes Jahr nicht mehr brauche.
Es war ein grosses Rennen und Laufen unter den Neuaufgenommenen. Zwar liessen sich die Freunde und Freundinnen aus Nidlau, Strackdorf und Versheim nicht gleichzeitig "versiegeln", doch nach einiger Zeit beugten alle ihre Knie und unterwarfen sich der geheimnisvollen Macht des "Apostels" und seiner Helfer, die sich "Willenscharaktere" nannten und vom Geist berufen sein wollten. Die "Propheten" gingen aus "Phantasiecharakteren" hervor, ebenso die andren "weissagenden" Glieder. Die "Hirten" und "Lehrer" hatten auch ihren besonderen zu ihren Aemtern brauchbaren Charakter, naemlich den "Verstandes- und Gefuehlscharakter" (* Vergl. hierzu K a r l H a n d t m a n n, Die Neu-Irvingianer, S. 58. D[er].H[erausgeber].). Durch diese vier "Aemter" redete Jesus, oder vielmehr: er wohnte in ihnen. Das glaubte ich eine Zeitlang fest und unerschuetterlich.
"An Lisa ist uns ein Mann verloren", sagte zuweilen der "Apostel" zu den andren Dienern und drueckte damit sein Bedauern aus, dass ich bei meiner guten Auffassung und lebhaftem Zeugengeist als Frau nicht Traegerin eines Amtes sein koenne. Zeugen - so nannte man das Einwirken auf andre, das Ueberreden, das Anfuehren von Beweisen fuer die Richtigkeit des "Werkes" unter Benutzung der dazu brauchbaren Bibelstellen. Meine Seele war erfuellt von einer echten, reinen Liebe zu allen "Schwestern" und "Bruedern", ich bildete sozusagen den Mittelpunkt der neuerrichteten Versammlung und genoss viel, viel Gegenliebe und Vertrauen seitens der Gemeindeglieder. Auch Peter, der mir gefolgt war, bewaehrte sich als gutes, gehorsames "Glied am Leibe Christi", als brauchbarer Baustein zu dem Tempel, der nach dem Vorbild der Salomonischen nun geistig erstand. Die Apostelkirche ist nach der Auslegung ihrer Anhaenger die "Arche", der "Tempel" und "Israel", welch letzteres trocknen Fusses durch den Jordan geht und seine 12 Steine als die 12 neuen Apostelaemter aufrichtet. Ich stiess mich an nichts mehr, ich hatte auf der Welt so manche Not zu bekaempfen und sehnte mich nach dem "verheissenen Land". Ja, in der Beziehung erfuellte sich das Wort: "Damals waret ihr wie die jungen Kindlein." Auch wir griffen nach dem, was uns ergoetzte. Tieferes Wissen und Erkennen kam nur den "Aemtern" zu, ein "Glied" hatte nicht nachzugruebeln, sondern einfach der Stimme des "guten Hirten" zu gehorchen, und das fanden die meisten auch ganz in der Ordnung.
Meine Begeisterung fuer das "Werk" und Peters Beugung unter die "Aemter", unsere Dienstbereit- und Gastfreundschaft wurden tuechtig ausgenutzt, und als auf meine Anregung hin noch weitere Freunde, darunter eine reiche Bauernfamilie, beitraten und eine grosse Vermehrung geweissagt wurde, gaben die neuen Glieder in Reimsfeld die grosse Stube auf einem sogenannten Kellerhaus zum Versammlungslokal her. In Aarheim, einige Stunden von Reimsfeld entfernt, wurden Baenke und ein Podium angefertigt, letzteres zum Sitzen fuer die "Aemter" und zum Knieen fuer die "Glieder". Als es nun hiess, die Sachen von Aarheim nach Reimsfeld zu fahren, da waren noch die apostolischen Pferdebauern nicht gleich bei der Hand - vielleicht war's auch den "Dienern" etwas genierlich, durch die Ortschaften zu fahren und sich manchem Spott auszusetzen - und so wurde Peter beauftragt, und er gehorchte. Mit seinen Kuehen holte er den Erntewagen voll Geraetschaften in Aarheim ab und fuhr ihn nach Reimsfeld, wo nun das grosse Fest der Einweihung stattfand. Ich erhielt eine schriftliche "Weissagung" zur Vorbereitung des Festes. Mit meinen Freundinnen von Nidlau und Versheim war ich geschaeftig, fuer ein Festmahl zu sorgen. Auch die andren lieben geistlichen Schwestern liessen es an nichts fehlen. So mancher volle Korb wurde aus dem Haushalt nach Versheim geschleppt! Alles war in Bewegung. Sie war wirklich schoen und herzerhebend, die Einmuetigkeit dieser Frauen, die so freudig gaben und schafften, um dem Herrn auch in irdischer Beziehung einen wuerdigen Empfang zu bereiten. In ihrer Ueberzeugung war es doch der Herr Jesus selbst, dem ihre Geschaeftigkeit galt.
Eine gewaltige Schar stroemte am folgenden Sonntag herbei. Ansehnliche vornehme Herrn - auch "Diener" der Apostelkirche - waren darunter. "Apostel" und "Prophet" (das kleine Maennchen) kamen aus Giessen und Wetzlar. Auch aus andren Gegenden eilten die "Glieder" herzu. Es war ein herzerhebendes Fest fuer die "jungen Kindlein". Weissagung auf Weissagung ertoente, der Saal zitterte zuweilen unter dem Schuetteln, Stampfen, Zucken und Zittern der "begabten Glieder". Lieber Leser, das muesstest du nur einmal sehen und miterleben, die Haare wuerden sich dir straeuben! Uns aber war es ein "Bezeugen des heiligen Geistes". Mit geschlossenen Augen sassen wir da, ich selbst wurde zuweilen heftig geschuettelt.
Ja, was war denn das, und woher kamen diese Bewegungen? Da es sich um religioese Dinge handelt, um Auffassungen und Ansichten unter den vielen und mancherlei Glaubensrichtungen, will und mag ich die Sache nicht ins Laecherliche ziehen, noch derartige Erscheinungen, wie sie im Leben oefter beobachtet werden, naeher erklaeren. Es sind Uebertragungen, gewissermassen Ansteckungen von Mensch zu Mensch, eine willenlose Hingabe des Selbst der Erwartung der zufliessenden "Gaben". Selten wagt ein Glied darueber nachzudenken, denn es hat ja keine selbstaendige Ueberlegung mehr, es darf keine haben, hauptsaechlich keinen Willen mehr, dagegen verlangt man von ihm Furcht vor dem "Apostel", dem fleischgewordenen Jesus, dessen Zorn, wenn er anbrennt, ein "verzehrend Feuer" ist.
Das sollte auch ich spaeter erfahren, als ich es wagte, an der Echtheit der "Apostel" und an der Wahrheit der Weissagungen zu zweifeln, ja an der Handlungsweise der heiligen "Diener" Anstoss zu nehmen und meine diesbezueglichen Ansichten bei den apostolischen Geschwistern auch nur andeutete! Sie fuehlten sich, um sich nicht durch Verschweigung schwerer Suende schuldig zu machen, verpflichtet, dieses dem "Diener" mitzuteilen. Ueberhaupt bleibt nichts verborgen, was etwa ein "Glied" gegen die "Aemter" zu sagen wagt. Die Amtspersonen aber koennen nach Belieben walten, und niemand hat ihnen dreinzureden. Kein echtes Glied macht den Versuch, seine Fesseln abzuschuetteln, findet es doch darin das Gebundensein unter den Gehorsam des Kreuzes Christi, dessen Namen es als "Siegel" auf der Stirne traegt.
Meine Toechter hatten Dienststellen in einer f u e r s t l i c h e n F a m i l i e gefunden, ich selbst erfreute mich bis dahin des Wohlwollens dieser hohen Herrschaften; manche Verguenstigung war mir von ihnen zuteil geworden. In meiner ungesunden Schwaermerei schleppte ich durch Ueberredung auch meine Toechter als "Bausteine zum Tempel" herbei, indem ich nicht ahnte, wie schwer ihnen dieser Schritt wurde. Ihren Herrschaften konnte das auf die Dauer natuerlich nicht verborgen bleiben.
Ein junger "Diener" der Gemeinde liess es sich besonders angelegen sein, meine Toechter in der Erkenntnis zu foerdern. Einmal, als er wieder anwesend war, schied er mit einer Rose im Knopfloch. Eine a n d r e Liebe war im Aufbluehen! In der Folge stellten die Herrschaften meine Toechter zur Rede und erklaerten ihnen, sie muessten entweder die Schwaermerei unterlassen, oder aber aus ihren Stellen scheiden. Ich wurde auf das Schloss zu Talstadt befohlen, und die durchlauchtigen Herrschaften baten mich dringend, die Verbindung mit der apostolischen Gemeinde aufzugeben; wenigstens sollte ich doch meine Kinder damit verschonen, die sie gern behalten moechten. Kalt wie ein Stein stand ich vor denen, die mir schon so manches Gute erwiesen hatten, mit kalten Worten wies ich alles freundliche Zureden zurueck. Endlich sagte ich, dass ich erst den "Herrn" fragen wollte, ob er es gestatte.
Und ich fragte. Die Antwort? "Eure Kinder brauchen keine Dienststellen in Fuersten- und Graefenhaeusern, sie koennen auch anderswo gute Stellen haben und werden sie bald finden."
In meiner Beklemmung wagte ich noch zu erwidern: "Aber der Fuerst ist doch immer so gut gegen uns gewesen." Antwort: "Was hat denn Jesus alles fuer euch getan?"
Da wusste und wagte ich nichts mehr zu entgegnen, ich konnte nicht gegen den Willen des Herrn "Apostels" handeln, ich musste mich ins Unvermeidliche fuegen, so schwer es mir auch wurde. Der Herr verlangt Opfer, und wer nicht alles hingibt um seines Namens willen, der ist seiner nicht wert.
Meine Toechter wurden nun entlassen und fluechteten sich mit ihren Habseligkeiten zum Herrn "Apostel", der damals in Giessen wohnte. Sie fanden auch dort bald Stellen, die eine als Koechin bei Frau v.R. und die andre daneben als Kinderpflegerin.
Und heute frage ich: War das ein dem Herrn im Himmel gefaelliges Opfer? "Wer Dank opfert, der preiset mich", heisst es in der Schrift. War das mein Dank gegenueber dem fuerstlichen Hause, war das ein Preis dem Hoechsten, der mir die Wege geebnet hatte zu edlen Menschenherzen?
Es war ueberwunden. Das "Opfer" war gebracht, das fuerstliche Wohlwollen war verscherzt! Ein bewegtes Leben begann fuer meine irregeleiteten Toechter, waehrend Peter und ich uns um so fester und tiefer in die apostolischen Ideen verrannten. Das Ziel erschien uns nicht mehr fern, wo wir allen bisherigen Sorgen und Beschwerden entrueckt sein wuerden, wenn wir treu beharrten bis ans Ende. Meine sonst so heitere Gesinnung verkehrte sich immer mehr ins Gegenteil. Ich ging ganz in der apostolischen Schwaermerei auf. Alle meine zehn Kinder - grosse wie kleine - brachte ich zur "Versiegelung". Auch Schwester und Schwager ueberzeugte ich durch Ueberredung von der Richtigkeit des "Werkes", und auch sie beugten sich unter die Macht des "Apostels". Ich war ja so felsenfest ueberzeugt und so gluecklich. Ich schwamm sozusagen in einem Meer von Liebe. Ich meinte es aufrichtig mit allen Gliedern der Gemeinde, umfasste alle mit reiner, inniger Liebe und haette gern alle Menschen so gluecklich gemacht. Peter, mein Mann, sah mit Wohlgefallen dem Wirken seiner Frau zu und duldete gern die zeitweise Vernachlaessigung meiner haeuslichen Pflichten. Er war ein stiller Mensch, lebte mehr in innerlicher Beschaulichkeit, erging sich in seinen Traumgesichten und fuehlte sich gluecklich in seiner apostolischen Wuerde.
An den langen Winterabenden war bald in Nidlau, bald in Versheim, bald in Frankendorf Versammlung, in der die "Diener" ihre Predigten hielten. Die neu errichtete Gemeinde fand sich zahlreich aus der Umgegend ein. Es war zu anziehend, die neue Bibelauslegung zu hoeren und zu erfahren, dass alle Propheten in ihren Weissagungen nur u n s r e "a p o s t o l i s c h e" K i r c h e unter der Braut Christi gemeint hatten, dass alle Geschehnisse aus alter und neuer Zeit, alle Taten und Wunder Jesu nur Vorbereitung auf dieses Werk unsrer Tage gewesen seien. Was lag da noch an der Welt und ihrer Lust, wenn man die Gewissheit hatte, zu den Auserwaehlten, zu den Bevorzugten zu gehoeren!
Zwei junge "Diener" kamen aus der Ferne, aus einem andren "Stamm", um die neu erstandene Gemeinde zu staerken und zu befestigen. Sie predigten gewaltig, und das gefiel mir ausserordentlich. Die beiden Juenglinge kamen auch zuweilen zu mir in meine Wohnung. Aber bald fuehlte ich mich in meinen Erwartungen getaeuscht, wenn ich glaubte, durch diesen Verkehr reifer in der Erkenntnis zu werden. Es wollte mir scheinen, als ob das Herz des einen doch noch mit e t w a s a n d r e m erfuellt sei als mit dem neuen Evangelium. Er war mit seinen Gedanken nicht bei der Sache, wenn ich von dem "Werk des Herrn" sprach, desto eifriger aber stand er vor dem Spiegel und buerstete den Schnurrbart und glaettete die Locken, und wenn dieses Werk vollendet war, ging's in die Nachbarschaft. Richtig - eine L i e b s c h a f t war im Werden!
Es waren auch etliche Maedchen beigetreten, welche infolge sogenannter ungluecklicher Liebe sich ernster der Religion zugewandt hatten. Auf eine derselben hatte es der Juengling abgesehen. Er hatte aber kein Glueck mit seiner Liebe, denn der Herr "Apostel" kam bald dahinter, und da gab es einen grossen Krach. Er fuhr maechtig dazwischen, weil das Bauernmaedchen nicht fuer einen "Diener" passe, und verwies den liebevollen Juengling sofort aus "seinem Stamm". Anders war es mit meiner Tochter Lisbeth und dem jungen "Diener" mit der Rosenknospe. Beider Herzen hatten sich gefunden und mit Zustimmung des "Apostels" verbunden.
Du liebe Zeit ja! In aller Kuerze sollte der Herr kommen, die Versiegelten sollten entrueckt werden, und dabei ueberall frische Liebschaften?! Es muss doch den "Dienern" so kein Ernst gewesen sein mit dem Kommen des Herrn. Nun ja - mit Speck faengt man Maeuse. "Mit List habe ich euch gefangen", pflegte der "Apostel" zu sagen.
Nachdem der Versammlungssaal in Reimsfeld eingeweiht war, gab es nun allsonntaegliche Versammlungen fuer die Mitglieder aus der naeheren und weiteren Umgebung. Nun fing der "Apostel" an, aus unsrer Mitte heraus "Diener" zu berufen. Mit der Zeit entstanden "P r i e s t e r", "H i r t e n" und "L e h r e r". Feierlich wurde jeder in sein Amt eingefuehrt, wobei es ohne Weissagung nicht abging. Trotzdem ich hier und da bereits manchen Anstoss gefunden hatte, sagte ich mir in meinem Herzen: Das "Werk" ist doch ein fuer allemal richtig, denn woher sollten sonst die maechtigen Schuettelungen, das krampfartige Zucken und Zittern der begabten Glieder kommen, wenn hier nur Fleisch und Blut taetig waren?
Ich selbst habe dergleichen Anfaelle am eignen Koerper erlebt. Da mir jedoch die sogenannten "Weissagungen" oft zu einfaeltig und zweifelhaft als "Worte des Herrn" vorkamen, war ich spaeter sehr vorsichtig, wenn der Trieb zum Reden sich unter Zucken und Schuetteln regte, meine von der Predigt empfangenen Eindruecke in die Versammlung hinauszuschreien als Bestaetigung der Worte des "Apostels". Ich pruefte sorgfaeltig und fand, dass es eigne - vielleicht auch durch den "Apostel" uebertragene Gedanken waren. Ohne Bedenken wurden dergleichen Aussprueche mit dem Ruf begleitet: "So spricht der Herr!" Es muss doch wenigstens dem "Apostel" klar gewesen sein, dass es der Herr n i c h t war, der da sprach. Und er duldete es trotzdem. Oder sollte er's am Ende selbst geglaubt haben? Kann nicht gut moeglich sein. Freilich, als er einsah, dass die "Weissagungen" dem Gliedern wichtiger und anziehender waren als die Predigt, weil sie in den "Weissagungen" unmittelbar den Herrn zu hoeren glaubten, da donnerte es dazwischen und belehrte uns, dass alle Weissagung vorher durchs Apostelamt ginge und die Predigt - G o t t e s W o r t v o n h e u t e - ueber der "Weissagung" stehe. Er stellte die "Weissagung" als koestliche Beigabe zu Gottes Wort - nicht dem Bibelwort in der Predigt - hin. Trotzdem lauschten wir doch gar zu gerne der "koestlichen Beigabe".
Zuweilen gab's auch Furcht und Schrecken, wenn ein durch Verrat angeschwaerztes Glied bewusst oder unbewusst "Jesum" in irgend einem der Amtstraeger beleidigt hatte. Dann blitzte und donnerte es, wie der "Apostel" sich selbst ausdrueckte, zu warnendem Beispiel fuer andre. Einem Glied, dessen Kniee sehr beugsam waren, das sich bekennend und um Gnade flehend vor dem "Herrn" niederwarf, schien ja alsbald die Sonne wieder.
So stand es in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts im sogenannten "Stamm Juda". Wie steht geschrieben? "Juda, du bist ein junger Loewe." Ich habe den Loewen des Stammes in der neuapostolischen Kirche als den "bruellenden" kennen gelernt, und ich bin ihm entronnen. O, koennten doch alle g u t e n Leute, die noch unter seiner Herrschaft schmachten, meine Worte hoeren! Dennoch Dank ihnen, die um mich besorgt sind! Aber ich rede aus Ueberzeugung. "Gott ist nicht ein Mensch, dass er luege." Wohl aber kein Widersacher. D e r i s t e i n L u e g n e r v o n A n f a n g a n u n d w e s e n s g l e i c h m i t d e m "b r u e l l e n d e n L o e w e n"!
Als eines der eifrigsten Mitglieder der Apostelgemeinde war ich in manches eingeweiht und durchschaute manches, wovon andre keine Ahnung hatten. Doch warf ich auftauchende Zweifel und sich regendes Misstrauen immer noch gewaltsam von mir. Das "Werk" war ein fuer allemal das rechte. Die Bibel bezeugte es ja ueberall: Es entsprach dem Tempel, es entsprach der Arche, es entsprach auch dem zurueckgekehrten verlorenen Sohn, der sein Gut verprasst hat, nun aber als "neuapostolische" Kirche, vom Vater mit offenen Armen empfangen, im Besitz neuer Kleider und Schuhe ist. So hatte es ein "Diener" in einer Predigt ausgefuehrt. Es glaubt's ja kein Mensch, mit welche Gier echte Glieder solche Ausfuehrungen in sich aufnehemen, besonders wenn noch ein "Prophet" die Bestaetigung dazwischen ruft. Also die der Kirche verlorenen Gaben, die sie als der juengste Sohn - der aelteste war das Volk Israel - umgebracht hatte, die sich seitdem mit "Trebern" begnuegen musste, diese Gaben hat nun die "neuapostolische" Kirche bekommen, weil sie sich aufgemacht hat und zum Vater zurueckgekehrt ist. Das hochzeitliche Kleid und neue Schuhe, d.h. eine neue Stellung, einen neuen Lebensweg, dazu noch den Hauptschmuck: den Ring der "Versiegelung". Dann auch noch das Mahl, von dem der Prophet des alten Bundes schon geweissagt hat. Alles das war jetzt unser im Vaterhaus der Apostelkirche. So ungefaehr war der Inhalt einer Predigt, die ich heute, nach ungefaehr 18 Jahren, in weiteren Einzelheiten nicht mehr ausfuehren kann. Aber ich war von dieser Auslegung so eingenommen, dass kein andrer Gedanke mehr Raum fand.
Wo blieb und bleibt nun der aelteste Sohn - das Volk Israel? Es heisst doch, dass er "murrte" und dem Vater Vorwuerfe machte. Ich habe noch keinen Juden kennen gelernt, der ueber die entbehrten Gaben - "Versiegelung" und das fette Mahl = die kraftvollen Predigten der Apostelkirche - gemurrt haette!
Solche Gedanken kamen mir aber damals noch nicht in meinen umnebelten Sinn. Viel weniger noch den andren Gliedern. Als ich spaeter wieder nuechtern denken lernte, fiel mir noch eine Menge aehnliche Widersprueche ein.
Wie gesagt, ich fand keinen Anstoss, weder an der Lehre, noch an der Predigt. Die Gemeinde galt mir als der Tempel, in dem nicht allen die grossen und glaenzenden Bausteine, sondern auch die Menge der unscheinbaren und kleinen Steine durch einzelne Glieder dargestellt waren.
Und das glauben viele Tausende von irregeleiteten Schafen! Soll der neuerbaute "apostolische" Tempel in allen Stuecken dem zu Jerusalem entsprechen, so moechte ich an seiner Vollendung kein Teil haben, die "Entrueckung" erscheint mir denn doch zu zweifelhaft in dem Gedanken, dass in Jerusalem kein Stein auf dem andern geblieben ist.
Warum habe ich das damals nicht ueberlegt?
"Es ist nicht recht", sagte ich eines Tages zu Else, meinem ehemaligen Lehrmaedchen im Weisszeugnaehen und nunmehriger apostolischer Glaubensschwester, "Jakobs haben die Welt verlassen und gelten doch hier nichts und dort nichts, wir wollen sie durch einen Besuch erfreuen." Else war einverstanden, und so gingen wir beide an einem Sonntag in Jakobs Haus, waehrend die andern apostolischen Glieder nur immer Glaubensgenossen von einem gewissen Ansehen in der Gemeinde aufsuchten. Jakobs waren uebergluecklich. Eltern und Kinder freuten sich, als wir bei ihnen Kaffee tranken. Auch wir waren glueckselig, der Familie eine Freude bereitet zu haben.
Warum sollte denn auch ein Unterschied sein zwischen den gewoehnlichen Gliedern? Ueber solches und noch manches andere sprach ich mich mit Else aus und streifte auch andre Vorkommnisse, die nicht recht mit unsrer Stellung als Auserwaehlte in Einklang zu bringen waren. Eine Meinungsaeusserung unter vier Augen!
Was war das fuer ein seltsamer Predigttext in einer der naechsten Versammlungen? Absalom? Was soll Absalom bei den "Versiegelten"? "Wer setzet mich zum Richter ein, dass ich jedermann zum Recht verhuelfe?"
Der "offenbarende", d. h. der verlaeumderische Geist war ueber meine Vertraute, die Else, gekommen und hatte dem "Apostel" alles "gewahrsagt", d.h. geklatscht, was ich fuer unrecht befunden und geruegt hatte. Alsdann erkannte der Priester den Geist Absaloms in mir und peitschte ihn mit scharfen Worten, dass es eine Art hatte. Ja, da machte ich grosse Augen, als ich merkte: das gilt dir! Auf ein andres Mal halte deinen Mund und tadle nicht die Handlungen des ins Fleisch gekommenen "Jesus!" Hoerst du nicht das "Wehe, wehe!" des "Geistes der Weissagung"?
Und weiter: Wer gab dir das Recht, eigenmaechtig Gaben zu sammeln und einem hungernden Ehepaar nach Frankfurt zu senden? Was hast du getan! Kennst du nicht das Wort der Schrift, heisst es nicht "sie legten es zu der Apostel Fuessen?" Nur d a h i n gehoeren die Gaben und Opfer. Heisst es nicht: "Du sollst nicht stehlen?" Du hast "Jesus" die Liebe der Gemeinde gestohlen!
"Das muss anders werden", sagte der "Papa (*) Titel des "Apostels", in andren Gemeinden auch "Vater". D.H.) Apostel", die Glieder scharen sich um Lisa, haengen sich an sie, statt an "Jesus", (natuerlich an den "Traeger" der Wuerde), die Schwester muss gedemuetigt werden, die Liebe der Gemeinde muss von ihr ab und "Jesus" wieder zugewandt werden!"
Harmlose Lisa, was geht vor, und was haben sie ueber dich beschlossen? Noch mehreres kam hinzu. Zwischen dem Aarheimer Wilhelm, der ein Amtstraeger war, und mir gab es eine Spannung. Mein Sohn stand in Arbeit bei Wilhelm, ohne dass wir einen bestimmten Lohn vereinbart hatten. S e i n R e c h t, s e i n e G e w a l t u e b e r d i e G l i e d e r d e r G e m e i n d e d e h n t e W i l h e l n a u c h a u f d i e L o h n v e r h a e l t n i s s e a u s. Peter und ich waren damit nicht einverstanden. "Alles das tust du Jesus an!" schrie mir Wilhelm zu, wenn ich ihm Vorhaltungen machte, oder ihm sonstwie in weltlichen Dingen widersprach. Ich stellte seine Jesuschaft in einfach irdischen Sachen in Abrede und erntete dafuer Grobheiten und Ungerechtigkeiten von ihm. Darauf wandte ich mich schliesslich an den "Papa".
Ja, die Eifersucht, sie ist eine schlimme Leidenschaft! Gibt es denn in der heiligen, christlichen Liebe auch eine Eifersucht? Bekundete "Papa" nicht einmal innige Freude, als zwei junge Maedchen aufeinander eifersuechtig waren, weil sich eines zurueckgesetzt fuehlte, und der "Apostel" nun dem andren gleiches Entgegenkommen beweisen musste? Jetzt war "Papa" selbst eifersuechtig. Warum auch sonnte i c h mich in der Liebe der Gemeinde und liess "Jesus" im Schatten stehen? Warte nur, Lisa, die Sonne soll dir untergehen und Nacht dich umhuellen. Der "Herr" hat's beschlossen. Der Herr des Tempels der "Apostelkirche" - der Jesus von heute!
Der "Papa" kommt nach Reimsfeld, gewiss kommt auch der "Prophet" mit.
Wie freute ich mich, als ich dieses hoerte!
Heute bringt doch gewiss der Geist der Wahrheit Licht in die Sache und rechtfertigt dich vor der Gemeinde, wo Wilhelm solche Ungereimtheiten begeht, die einem "Auserwaehlten" Schande bereiten. So dachte ich, ohne dabei Wilhelm zu hassen. Waere ich auch gerne gut zu ihm gewesen, so haette das dem Wuerdentraeger nicht genuegt. Auf die Kniee vor ihm, Schwertstreiche des Geistes erdulden, jammern und aechzen um Vergebung fuer die Auflehnung gegen ihn - "Jesus" - das war unumgaengliche Bedingung.
Er wird kommen, der "Papa", aber nicht direkt von Siegen nach Reimsfeld, sondern auf einem Umweg ueber Aarheim und Nidlau.
Freudige Aufregung bei Peters! Ich richtete das Essen wie stets, wenn der "Papa" oder Brueder und Schwestern erwartet wurden. Die ganze Familie war marschfertig und wartete mit Sehnsucht auf die Ankoemmlinge, um mit ihnen gemeinsam zu dem erhebenden Gottesdienst zu gehen. Heute musste es ja viel Bewegung geben, wo "Apostel" und "Prophet" zugegen waren. Es war herrlich zu erwarten, unmittelbare Worte Gottes zu hoeren und himmlische Vorgaenge in Gesichten zu schauen, vielleicht auch noch einen Lobgesang oder fremde Sprachen (Zungenreden) zu vernehmen.
Was bedeutet das?
Der "Papa", das "Prophetchen" und die Amtstraeger von Aarheim gehen spornstracks an Peters Haus vorbei, ohne aufzusehen! "Papa" steckt seinen Kopf fast unter, wie immer, wenn er durch ein Dorf und an Leuten voruebergeht, als ob er nicht moechte erkannt werden. Auch einige "weissagende" Jungen und das Toechterchen des "Apostels" sind bei der Gesellschaft. Das kann gut werden.
Wir schauen ihnen sprachlos nach. Ein Gewitter ist im Anzug, nicht am Firmament, sondern ein "apostolisches". In Aarheim sind die Duenste aufgestiegen.
Fast unwillkuerlich folgen wir der Gesellschaft.
Schwuele lag auf der Versammlung, angstvolle Stimmung beherrschte alle Glieder. Fuehlten sie es, oder wussten sie darum, dass es heute blitzen und donnern sollte? Lisa, du bist ausersehen. An dir soll sich der Feuereifer des "Apostels", das verzehrende Feuer des Zornes kuehlen zum warnenden Beispiel fuer die andren, den "Loewen aus Juda" nicht zu reizen! "Kuesset den Sohn, dass er nicht zuernet!"
"Papa", bist du zum Rabenvater geworden? Ist der "Loewe von Juda" am Ende doch der "bruellende"? Prophetengeist, wo holst du deine Blitze her zur Beleuchtung der Gemeinde? Stammen sie nicht aus dem Feuer der Hoelle? Lodert dieses nicht in deinem Herzen?
Lisa, traeumst du einen schrecklichen Traum, oder bist du wirklich unter die Raeuber und Moerder gefallen? Wo sind deine ehrbaren Kleider, wo ist dein helles Angesicht? Wer hat dich beworfen mit Kot, wer schlug dir bluttriefende Wunden?
War es nicht der Drache aus dem Abgrund? Ja, es war der Moerder und Luegner von Anfang an. Heute hat er sich in das Haus des Herrn eingeschlichen, das naechste Mal wird es ihm nicht gelingen. Der Herr selber wird zugegen sein und die Wunden heilen. Sei getrost, arme, zerschlagene Lisa, Gott kennt dein Herz und wird dich troesten. Die dich geschlagen, zogen ihre Strasse hinab nach Giessen zu, der Priester von Aarheim und der Levit von Frankendorf gingen vorueber und liessen dich in deinem Blute liegen. Der Allbarmherzige aber heilet alle deine Wunden.
"Dieweil wir aber wissen, dass der Herr zu fuerchten ist, fahren wir schoen mit den Leuten, denn vor Gott sind wir offenbar." Dieses Wort hatten der "Apostel" und der "Prophet" im Saale zu Reimsfeld vollstaendig vergessen. Durch "Apostelmund" und schmetternde "Weissagungen" kamen die Beschuldigungen zum Vorschein, deren Gruende ich nicht ahnte, auch nicht, wer diese niedertraechtige Person, von der die Rede war, etwa sein moechte.
Da schrie ein dummer Junge in die Versammlung hinein: "Lisa heisst ihr Name!"
Um Gotteswille, welche Geschichte! Was spielte sich hier ab? Einfach ein Possenspiel des Teufels. Und doch konnte ich noch nicht loskommen.
Spaeter, als meine Fesseln gesprungen waren und versucht wurde, sie wieder anzulegen, sagte man mir, dass das Unrecht, was mir geschehen sei, eine Pruefung zur Laeuterung haette sein sollen, damit ich als g e h o r s a m e s Glied daraus hervorgehe. Auch die ganze G e m e i n d e sollte einmal den Zorn des Herrn "Apostels" kennen lernen und sich nicht mucken. Was sie bis dahin von dieser Seite "Papas" wusste, war nur Spielerei.
"Der Zweck heiligt die Mittel", eine aufrichtige Seele wird vor der ganzen Gemeinde zu einem Scheusal entstellt. Anschuldigungen werden vorgebracht, wie sie der aergste Verleumder nicht schlimmer erfinden kann, Luegen, wie sie nur der "Luegner von Anfang an" erdenken kann. Schoene Zuchtmittel zur Laeuterung und zur Erziehung zum Gehorsam! Nicht wahr?
Es hatte gefruchtet, nur nicht bei mir. Ja und Amen sagten die Glieder zu allem, was der Apostel sprach. Und das tun sie immer. Niemand wagt zu denken. Wie sollte auch ein Glied dazu kommen, "Gottes" Wort im "Apostel" und "Propheten" oder in einem andren Amtstraeger zu bezweifeln?
Meine Tochter Lieschen hatte allerlei wissbegierige Fragen an den "Papa" gerichtet. Z.B.: Wann und wie das Kommen des Herrn geschaehe. Sie wollte sichere Auskunft haben, ehe sie sich "versiegeln" liess. Ihre Neugier und vorwitzigen Fragen haetten sie beinahe aller Aussichten beraubt. "Papa" verweigerte das "Siegel". Ja, auf diese Weise lernten die Kinder b i t t e n, statt eine so grosse Gabe als selbstverstaendlich hinzunehmen. Mit den wenigen "Hochzeitskleidern" verschwenderisch umzugehen und sie an Vorwitzige abzugeben, das hat "Papa" nicht noetig. Schliesslich hatten Lieschen und ich sein Herz bezwungen, das kostbare "Siegel" in Empfang genommen und somit das hochzeitliche Kleid erobert. Hat der "Apostel" gelogen, hat der "Seher" falsch geschaut? Hunderte und Tausende von "Hochzeitskleidern" sind heute noch vorraetig und in der Apostelgemeinde zu vergeben.
Lieschen, war hat dir der "Papa" geantwortet? Bei der Gemeinde herrsche noch viel Unwissenheit ueber das Kommen des Herrn. Er sei schon zum zweiten Mal gekommen in den vier "Aemtern" der Apostelkirche. "Wer euch hoeret, der hoeret mich", rufe der "Geist der Weissagung" aufs neue. Das n e u e Wort sei jetzt zeitgemaess, nicht mehr das a l t e, es sei nur Grundlage und Bestaetigung fuer das neue. Das alte wie das neue Testament redeten von seiner Gemeinde, sogar in verschiedenen Taten und Wundern Jesu, des d a m a l i g e n, faende sich das "Werk" der Gegenwart versinnbildlicht. Vor 3 bis 4000 Jahren haetten schon die Propheten im Geist diese Gemeinde gesehen und gerufen: "Zu d e r Zeit wird der Berg, darauf des Herrn Haus (die Apostelkirche) stehet, hoeher sein denn alle Berge (andre Kirchen) und ueber alle Huegel (Sekten) erhaben sein." H i e r sei die Pforte des Himmels, h i e r sei das Amt, das die Vergebung spende. Sonst nirgends. H i e r sei auch die Tuere fuer die Schafe, die enge Pforte = das Apostelamt. Alle bisherigen Hirte waeren Diebe und Moerder gewesen, nur um die Stelle sei es ihnen zu tun. (Und die "Apostel?" fragte ich. Ja, d i e verfuegen n u r ueber die ungeheurer "Opfer" und "Zehnten".) Wer aber zu dieser Tuer, belehrte der "Apostel" weiter, eingehe, der wird Weide finden, denn der Prophet des alten Bundes spreche von einem "fetten Mahl."
Das ist die geistige Speise, die den "apostolischen" Schafen aufgetischt wird. "Alles ist euer, das Gegenwaertige und Zukuenftige, alle Weissagungen der Schrift sind euer durch das goettliche Wort im Munde des "Apostels" und "Propheten."
Lisa, verirrtes Schaeflein, willst du nicht jetzt noch umkehren in den Stall des "Apostels?"
Damals sagte ich mir: Verleumdung, Verrat, Ungerechtigkeit und Rachsucht haben dem Geist aus dem Abgrund die Tuere zur Gemeinde, zu den Herzen der "Diener" geoeffnet; wenn aber wiederkehrt der Geist des Lichts, der Geist der Wahrheit, dann wird Lisa gerechtfertigt dastehn vor der Gemeinde, die Aufrichtigkeit ihres Herzens wird durch Propehetenmund bezeugt werden.
Ich ging und kam und kam und ging allsonntaeglich zum Gottesdienst und holte mir ein paar scharfe Schwerthiebe vom Aarheimer Wilhelm, dem "Priester". Ein "Prophet" war nicht da, nur "weissagende" und "visionaere" Glieder. Bald lockte der Geist erstere und mahnte, bald rief er ein "Wehe!" ueber die Ungehorsamen und Widerwaertigen aus. Stets mit der gewohnheitsmaessigen Begleitung: "So spricht der Herr!" Die "Visionaere" sahen unterdessen B e s t i e n umherschleichen und S c h l a n g e n a n d e n W a e n d e n sich hinwinden und Oeffnungen suchen. Alles laecherliche Dinge, wie sie ein toller Traum kaum zuwege bringt!
Der "Papa" hat doch gewiss die tiefste Erkenntnis ueber solche Dinge. Ich glaubte das, ich hatte es aus seinem eignen Munde gehoert, als sich "weissagende" und "visionaere" Glieder auf ihre Gaben etwas zugute taten, und hatte das erwogen, als er zu verstehen gab, diese "Visionen" gaelten in erster Linie dem Gliede selbst, und dann erst seien sie auf die Gemeinde zu beziehen. Also "Papa" wusste, dass diese Bilder dem Seeleneleben des betreffenden Gliedes entsprechen; es schaut eben seinen e i g n e n Gedanken und Vorstellungen entsprechende Bilder. Und d a s sind die beruehmten "Gaben!" Nun ja, dann konnten sie sich freilich zu ihren Bestien und Schlangen Glueck wuenschen.
Es ist sonderbar, wie ich so fest umgarnt war von den Stricken, die der "Apostel" um mich geschlungen hatte. Da half kein Zappeln, meine Seele war vom Netze umgarnt. Immer mehr haeuften sich die Beweise aus der Schrift in Vorbildern und Prophezeiungen von diesem "Werk der siebenten Posaune." Doch das Licht muss dem Gerechten immer wieder aufgehen und Freude dem frommen Herzen. Ich hoffte und hoffte von Woche zu Woche. Ich hielt mich an das Dichterwort:
"Willst du dein wahres, inneres Wesen pruefen,
so forsche tief in deines Herzens Tiefen!"
Ich fand mich, ausser dem Wortwechsel mit dem Aarheimer Dachdecker Wilhelm, im Lichte der Wahrheit keines Vergehens schuldig, ich liebte alle Menschen mit gleicher Aufrichtigkeit und strebte mit Eifer und Ernst darnach, mich des Namens, den ich trug, wuerdig zu erweisen, ich glaubte an einen Teupelspuk im Saale zu Reimsfeld, der sich beim naechsten Kommen des "Apostels" aufklaeren wuerde.
Hoffnungsvoll gingen Peter und ich nach Aarheim. "Apostel" und "Prophet" waren schon da. Lisa, Lisa! "Papa" und "Zappelmann" stehen erwartungsvoll auf der Strasse. Merkst du nicht, wie sie sich schleunigst zurueckziehen? Ist ihr Sehnen, ihr Rachedurst gestillt, koennen sie heute ihr Werk vollenden? Sicher, denken sie, ist die Lisa reif zum Kriechen, sie hat's ausgehalten, sie ist nicht davongelaufen, sie wird wieder ein gehorsames Glied werden, sie wird die Beschuldigungen durch reumuetiges Flehen vor der Gemeinde zuruecknehmen, sie wird auch die Autoritaet des Priesters Wilhelm anerkennen, sonst waere sie doch nicht gekommen.
Aber die widerspenstige Lisa kroch doch nicht zu Kreuze, obwohl sie wusste, dass ein Amtstraeger nie ein eignes Verschulden eingestehen darf, ohne seine Macht, seine Wuerde zu gefaehrden. Der "Insfleischgetretene" kannte seine Willensmacht. Heute wollte er ein Meisterstueck machen und dann das grosse Werk einer Begnadigung vollziehen. Er hatte sich bitter getaeuscht. Lisa hat auf die Begnadigung unter den gefordeten Bedingungen verzichtet und ist trotz des schmetternden "Wehe!", das der gewaltige "Prophet" ausstiess, wie wahnsinnig aus der Versammlung fortgerannt.
Peter fragte den Herrn "Apostel" in seiner Verzweiflung, was er anfangen und was daraus werden sollte. Ohne Ruecksicht auf das Herzeleid einer Familie, erbost ueber den Misserfolg, antwortete der "Papa" kaltbluetig: "Lasst sie laufen, wohin sie will!" Und im Bewusstsein oder in der Ueberschatzung seiner Willensmacht fuegte er noch hinzu: "Die kommt doch wieder!" Aber sie kam nicht wieder, obwohl Peter und ich noch lange am Strick zappelten, mit dem wir gebunden waren.
Wir hatten uns endgueltig entschieden, keinen Schritt mehr in die Versammlung zu tun, in die Gesellschaft, die wie eine Raeuberbande ueber uns Ahnungslose hergefallen war, lediglich, um ihr Muetchen zu kuehlen, um der neuen Gemeinde, die erst etliche Jahre zaehlte, einen Beweis ihrer Macht vor Augen zu fuehren und sich unbedingten Gehorsam und Unterwuerfigkeit zu sichern. "Beide ersten sind einen Laib Brot wert", sagt ein laendliches Sprichwort. Auch die "Apostolischen" wussten das. Nachdem sie sich in ihren Erwartungen getaeuscht haben und wir nicht mehr kamen, verbreitete man das Geruecht, ich sei aus der Gemeinden ausgestossen worden. Wie jede Neuigkeit, wurde auch diese schnell und mit einer gehoerigen Menge von Zutaten verbreitet.
Lisa, hoerst du nicht, was sie alles von dir zu erzaehlen wissen, wie hart sie dich verklagen, welche Genugtuung auch Leute empfinden, die dich einst gewarnt hatten?
Nein, ich hoerte nichts. Mir lag weder etwas am Gerede der Leute, noch an der Schadenfreude derer, denen ich einst ein Aergernis geworden war. Ich wand mich in meinen Banden, ich kaempfte einen Kampf, der nur dem Allwissenden bekannt ist, einen Kampf bis zur Verzweiflung. O diese Macht der Suggestion, diese widerstreitenden Maechte in einer Menschenbrust, in der bis dahin ein fremder Wille auf dem Thron sass und nun seinen Platz dem rechtmaessigen Besitzer nicht wieder hergeben will! Wenn ich dir, lieber Leser, ein Bild von diesen seelischen Vorgaengen geben wollte, du wuerdest mich nicht verstehen, noch begreifen. Wie mancher arme Gebundene, dem wieder etwas Licht in die Umnebelung seiner Sinne und seines Denkvermoegens hineingeschimmert ist, wird sich noch in seinen Fesseln winden! Entweder Sieg oder Wahnsinn, das musste das Ende des schrecklichen Kampfes sein. Ich erinnerte mich mancher Erzaehlungen des "goettlichen Papas", die mir wenig Trost in meinem Seelenkampfe brachten. So berichtete er einst von einem "Propheten" eines andren Stammes, der grossartig begabt gewesen sei, durch dessen Mund der Geist "Apostel" und andre erleuchtete Amtstraeger berufen habe. Dieser sei abgefallen und von dem Allmaechtigen mit Wahnsinn gestraft worden, sodass der Abtruennige, statt Speise in den Mund zu nehmen, Erde in den Mund gesteckt habe. Jeder Abfall habe schwere, zeitliche Strafen zu Folge, und in der Ewigkeit sei auch keine Vergebung. Diese und aehnliche Erzaehlungen weckten in mir seelische Empfindungen, unter deren Last ich zu seufzen hatte. Wenn es eine ewige Vernichtung gaebe! So dachte ich manchmal.
Und es gab eine Erloesung. Nicht von der Erloesung von Suenden durch Jesum Christum soll der Leser hoeren, sondern von der Erloesung aus der suggestiven Macht des "Apostels", von dem Wahn, als sei dieser der ins Fleisch gekommene Jesus und bevollmaechtigt, Suenden zu erkennen, Suenden zu vergeben und Suenden zu behalten, von der Erloesung aus der Einbildung und Anmassung, durch das "Siegel" aus Auserwaehlter, zur "Braut des Lammes" gehoerend, zu gelten. Erloesung von dem Glauben an die "Totenversiegelung" auf Grund des Schriftwortes "Was machen denn die, die sich lassen ueber den Toten taufen?" Und endlich Erloesung von dem Vertrauen auf die maerchenhaften Vorspiegelungen gelegentlich der bevorstehenden Wiederkunft Christi.
Besonders letzteren Vorgang wusste der "Papa" anschaulich zu schildern. Peter und ich waren einmal zugegen, als er einmal eine Anzahl "apostolische Schafe" den Hergang der "Entrueckung" vorspiegelte und seine vertrauensseligen Zuhoerer Mund und Nase aufsperrten. Ob sich der Mann damals nicht heimlich ins Faeustchen gelacht hat? Oder sollte er zeitweise selbst dem Wahn anheimgefallen sein, wenn er sich zu solchen Reden verstieg? In jedem Falle sei das Urteil Gott, dem allwissenden, gerechten und allbarmherzigen Richter ueberlassen.
Wie sagte der "Papa?" Einmal sei der Herr schon gekommen in den Wolken am apostolischen Kirchenhimmel. Zum zweitenmale wuerde ein grosses, glaenzendes Kreuz, das Zeichen des Menschensohnes, am Firmament erscheinen. Dann wuerden sich die Glieder von Reimsfeld erheben und sch mit den "Auserwaehlten" von Nidlau und Aarheim in der Luft treffen. Unterdessen haetten sich auch die anderweitigen Glieder des Stammes eingefunden, und alles schaere sich um den "Apostel". In allen Erdteilen wuerde die Sammlung der "Auserwaehlten" in gleicher Weise vor sich gehen. Alsdann komme Jesus durch die Luft seiner "Brautgemeinde" entgegen. Darauf wuerden sich die "Apostel" verneigen, dem Herrn die Braut uebergeben und sich dann, nachdem sie ihr Werk vollbracht, zurueckziehen.
Jesus steigt nun empor, fuehrt seine "Braut" ins Vaterhaus und stellt sie dem Vater vor. Das Hochzeitsmahl beginnt mit Feierlichkeit, waehrend auf Erden die grosse Truebsal vor sich geht. Wenn die Truebsal vollendet ist, kommt der Herr mit seiner Braut, den 12 000 "Versiegelten" aus den geistigen Staemmen Israels, auf die Erde hernieder und wird herrschen. Die "Auserwaehlten" aber werden Koenige und Priester sein ueber die, welche gelaeutert aus der grossen Truebsal hervorgegangen sind.
Das war die Erzaehlung des "Apostels", die ich aus der Erinnerung und nach bestem Wissen und Gewissen hier wiedergegeben habe. Die glaeubige Gemeinde war der festen Ueberzeugung, dass es bald "losginge" und machte sich die abenteuerlichsten und unglaublichsten Vorstellungen.
Wie und wadurch brach der Bann?
In einem andren Stamm war ein "A n t i c h r i s t" aus der Schar der "Erleuchteten" hervorgegangen. Ein Hauptmann a.D. mit Namen K. (Clauß / Anm PN) , der an der Seite des "Apostels" durch Wort und Schrift gearbeitet hatte, war zum Gegner des "Werkes", zum "Antichrist" geworden. Dass ein solcher kommen und aus der Gemeinde hervorgehen wuerde, wussten die Geister ja schon lange vorher, wie sie geweissagt hatten. Jetzt war er da.
"Gleich und gleich gestellt sich gern." Lange hatte ich mich gegen Aufschluss von andrer Seite gewehrt, hatte keinem Menschen meinen Kampf geoffenbart, weil ich mir dachte, dass ein Pfarrer oder ein andrer glaeubiger Christenmensch mir nur das sagen koenne und werde, was ich selber musste, weil sie in die "apostolische" Lehre und deren Handhabung nicht eingeweiht seien. Nun wandte ich mich schriftlich an den durch alle "Staemme" hindurch ausgeschrieenen und verschrieenen "Antichrist." D i e s e n Mann musst du hoeren. Wie ein Blitz kam der Gedanke in mein abgemariertes und zerschlagenes Herz.
Die Antwort liess nicht auf sich warten. Dem Herrn Hauptmann war es gleich mir ergangen. "Es ist nicht recht," hatte auch er gesagt, "wenn wir die sind und sein wollen als die wir uns hinstellen und ausgeben, so muessen wir auch dementsprechend handeln." Er hatte Vorkommnisse geruegt, welche der "Apostel" seines Stammes geduldet und vertuscht hatte, und eine Ruege kann sich dieser "Jesus" nicht wohl gefallen lassen. Damit war der Zwiespalt da, und nicht nur der "Antichrist" trat aus der Gemeinde aus, sondern ihm folgten eine grosse Anzahl andrer Anhaenger im Thueringer Land, in Berlin und in Amsterdam. Die von dem Hauptmann beanstandeten Geschehnisse aber fanden ein haessliches Nachspiel vor den Schranken des irdischen Gerichts und fuellten die Spalten der Zeitungen. "Und sie werden euch vor den hohen Rat stellen." Dieses Wort erachteten aber n i c h t alle "Glieder" fuer einen Beweis f u e r die Echtheit des "Apostels" und seiner goettlichen Sendung. Sie fielen ab und kaempften ihren Kampf um die Erloesung aus den unertraeglich gewordenen Banden, wenn auch vielleicht nicht mit der Heftigkeit, mit der ich ihn zu bestehen hatte.
Nun stand ich allein. An Peter hatte ich keine besondere Stuetze. Er war mehr der stille Mittraeger, es wurde ihm leichter, dieweil er noch viel von seinem alten Glauben hinuebergerettet hatte und die neue Lehre ihm noch nicht vollkommen in Fleisch und Blut uebergegangen war. Natuerlich, die "Entrueckung" aus seinen schwierigen Lebensverhaeltnissen waere ihm schon ganz recht gewesen.
Eines Tages traf Hauptmann K., der "Antichrist", zum Besuche bei uns ein. Bald darauf hatten sich auch zwei andre Herren aus Sachsen-Weimar eingefunden. Beide Herren waren gekommen, um sich mit uns zu beraten und sich ihrer entledigten Fesseln zu freuen. In der Gegend von Greiz und Gera, wo diese Sekte in grossem Umfang ihr Wesen treibt, hatten sich ebenfalls gute Leute und ernstsuchende Christen bekoeren lassen und waren nun in Gewissensnoete geraten. Sie hatten angefangen, nachzudenken, welche Taetigkeit aber rechten "apostolischen Schafen" nicht zukommt. D a s nur sind die rechten und echten Schafe, die auf die Stimme ihres Hirten, des "Apostels" hoeren. Sie hatten sich aber nicht nach diesem Gesetz gerichtet, sondern hinter die Kulissen geschaut und sich von den beobachteten Vorgaengen entruestet abgewandt. Wer ahnt die Kaempfe, die so ein Bauersmann durchzumachen hat? Dort schreitet er ruestig einher, und unter seinen Sensenhieben fallen die Schwaden. Wer ihn sieht, der glaubt ihn nur mit dem Gedanken an seine Arbeit beschaeftigt. Aber bald darauf kauert er in seiner Furche hinter hohem Korn, wo er sich ungesehen und unbeobachtet von menschlichen Augen weiss, und ruft in seinem geaengstigten Herzen, das sich nicht mehr zurechtfinden kann: "Herr, du weisst alle Dinge, du weisst auch, dass ich dich liebe!" Damit troestet er sich einsteweilen, bis ihm ein Licht aufgeht und er wieder klar denken kann. Wo gibt es eine groessere Freude als die, welche den durchstroemt, der seiner "apostolischen" Gefangenschaft entronnen ist. Solche Freude war es, welche die beiden wohlhabenden Maenner, einen Oekonomen und einen Geschaeftsbesitzer, dazu trieb, uns aufzusuchen und uns in unsern Noeten beizustehen. Es waren glueckliche Stunden, die wir mit den guten Leuten verleben durften.
Peter und ich waren frei geworden. Nun schwor man uns Rache und Verfolgung. U n s r e E x i s t e n z s o l l t e u n t e r g r a b e n w e r d e n. Und doch hatten wir schon zu viel Not gelitten durch unsre Schwaermerei, durch Arbeitsversaeumnis zufolge des ruhelosen Umherlaufens und der freigebigen Bewirtung "apostolischer" Gaeste aus allen Gegenden. Zunaechst wollte man uns von unsren Kindern trennen, sie dadurch unsrem Einfluss entziehen und uns auch auf diese Weise in eine Notlage bringen. Sodann wurde meinen seitherigen Freundinnen jeglicher Verkehr mit mir strengstens untersagt, konnte ich doch womoeglich auch sie noch zum Abfall verfuehren! "Wehe, wehe!" rief der Geist in der Versammlung, "was hat Christus fuer eine Gemeinschaft mit Belial?" Ich aber dachte: Schafskoepfe sind Schafskoepfe, und Drachen sind Drachen. Heimlich fluesterte wohl manche ehemalige Freundin mir zu: "O Lisa, waere es doch wieder wie frueher, kann es denn nicht mehr so sein? Es ist ja doch das alleinig rechte "Werk"; wenn du wieder zu uns kommen wolltest, so waere alles gut."
"Nein, nein," wehrte ich ab, "nie und nimmer!"
Traurig war das Verhaeltnis zwischen uns und unsren Kindern. Diese Aermsten - wie trugen sie Leid um ihre Eltern, besonders um die "abgefallene" Mutter, die sie vom Herrn "Papa" nur noch als eine vom Herrn Verworfene, eine Verlorene schildern hoerten! Ihre liebe, gute Mutter jetzt ein Teufel? Wie konnten sie das fassen? Ihre "apostolische" Seligkeit hatte sich verwandelt in tiefe Traurigkeit. Sie kannten doch ihre Mutter, die sie glauben und beten gelehrt und zu einem gottesfuerchtigen Wandel erzogen hatte, und nun gab ihr "Jesus" das Zeugnis einer Gottlosen! Wilhelm gab sich alle Muehe, den Kindern den Rest ihrer Zuneigung zur Mutter zu nehmen. "Ihr Kinder, ihr wisst es ja gar nicht, wie schlecht eure Mutter ist, was sie alles treibt und getrieben hat, sogar gestohlen hat sie," erzaehlte er und machte ein Maerchen zurecht, wie es der Teufel selbst nicht besser ersinnen konnte.
Vor Gott sind wir offenbar. Wer Luegen frech redet, der wird nicht entrinnen. Ich entwehrte mich mit Entruestung der gemeinen Verdaechtigungen, doch Wilhelm beharrte fest bei seiner verlogenen Behauptung. "Die Furcht huetet den Wals." Meine Kinder blieben einstweilen dem Herrn treu, verliessen aber dennoch die Mutter nicht ganz, wie es der "Apostel" verlangte. Indessen blieben sie im Zweifel und betrachteten mich mit forschenden Blicken: Sollten sie den Eltern vertrauen, oder "Jesus" Gehorsam leisten?
Meine Toechter hatten sich beide mit Zustimmung des "Apostels" verlobt. Wir Eltern standen bei dieser wichtigen Lebensfrage im Hintergrund. Nur "Papa" war massgebend. Und dann die Hochzeit! Freude herrschte bei allen Gaesten, nur nicht bei der Braut und ihren Geschwistern. Hochzeit o h n e die noch lebenden Eltern! Sie waren "g e s t o r b e n". Der neue "Jesus" - nicht der Heiland, der da ist und sein wird in Ewigkeit - hatte sie fuer "tot" erklaert. Der "Papa" vollzog die Trauung. Was lag ihm an der Herzensstimmung der Braut? Gut gekocht hatte sie selbsteigen, und wie schmeckten die suessen Streuselkuchen so gut, die sie gebacken hatte! Alle Haushaltungen der Apostelgemeinde Wetzlar waren vertreten. Die Leute zeigten, dass sie nicht nur fuer geistliche Speise empfaenglich waren, sondern auch irdische zu vertilgen wussten. Es galt ja, die erste Hochzeit in der neuen Gemeinde feiern. Kein Wunder, dass sie als gute Deutsche auch dabei tranken. Und wie lustig der "Papa" war! Er versteht es ja, schalkhaft zu sein. Heute war ja eine Siegesfeier. Welche hochfahrenden Gedanken moegen sein Herz bewegt haben! Jetzt, Lisa, bist du niedergezwungen, jetzt habe ich euch erst recht gedemuetigt, dich und deinen Peter; mein sind nun die Kinder, ihrem geistigen Vater, der sie gezeugt hat! Die junge Frau entledigte sich nach der Trauung ihrer Hochzeitskleider und bediente die Gaeste. Wie ein schwerer Traum lag es auf ihr, nur ihre Schwestern heuchelten dem "Papa" zuliebe eine gewisse Froehlichkeit. Nicht ist es der Fluch der Eltern, der sie umgibt, aber die Gebete der Eltern umringen sie in ihrer scheinbaren Froehlichkeit. Das Band der Liebe zwischen Eltern und Kindern war noch nicht entzwei. Trotz Schwert und Loewenzahn.
Waehrend Peter am Hochzeitstage still und in sich gekehrt einherging und sein stilles Seufzen dem Herrn im Himmel emporsandte, rief ich laut aus der Tiefe meines verwundeten Herzens: "Herr, Herr, lieber Vater! Rede du heut mit meinen Kindern, rede eine Sprache mit ihnen, die sie verstehen! Rede laut mit ihnen!" Immer und immer wieder die feste Zuversicht der Erhoerung meine gequaelte Seele erfuellte.
Meine Kinder waren auf die Fahrt nach Wetzlar. Sie kamen von Frankfurt, wohin sie auf "Papas" Befehl gezogen waren. Er hatte seinen guten Gruende, sie weit fortzuschaffen.
Was ist das? Der Zug haelt mitten auf der Flussbruecke. Aufregung in allen Wagen und Geschrei. Die Schaffner eilen von Abteil zu Abteil, um die Reisenden zu beruhigen. Es war kein Unglueck geschehen, nur eine Achse war gebrochen. Langsam fuhr der Zug ueber die Bruecke weiter. Haette es nicht eine Todesfahrt werden koennen fuer meine Toechter? Es war ein Mahnruf an sie und allen, die mit ihnen fuhren: Wohin geht eure Fahrt durchs Leben, was ist euer Ziel und Endzweck? Und auf der Rueckfahrt nach Frankfurt eine zweite Mahnung: Notsignale ertoenen. Der Zug ist auf falschem Gleise, nur noch wenige Minuten, und der Schnellzug braust heran! Zurueck, zurueck! Im letzten Augenblick noch gelingt die Rettung. Fast streift die Lokomotive den hintersten Wagen. Alle Fahrgaeste jammern und schreien. Meien Toechter sitzen stumm und schreckensbleich. Elisabeth stoehnt: "O Gott, gilt das uns?" Sie hat G o t t e s S p r a c h e verstanden.
"Papa" als H e i r a t s v e r m i t t l e r und Ehestifter. Gehoert das auch
zu seinem himmlischen Beruf? Der "Stamm Juda" war noch sehr jung. Der zur
Gruendung berufene "Apostel" hatte die neue Gemeinde erst werben und sammlen
muessen und sein erstes Arbeitsfeld in die Gegend von Wetzlar verlegt, nachdem
er seine irdische Taetigkeit als Schlosser aufgegeben hatte. Mit kleinen Bauernstuben
musste er sich zur Abhaltung seiner Versammlungen vergnuegen, bis Glieder angeworben
waren, die groessere Raeumlichkeiten zur Verfuegung stellen konnten. Schliesslich
fand sich eine Familie Steinherz, die im Besitz eines entsprechenden Zimmers war.
"Papa" erklaerte es als Sitz und Ort der Zusammenkunft seiner Amtstraeger; auch
fanden dort die weiteren Versammlungen statt. Die Leute, denen das Haus gehoerte,
hatten eine erwachsene Tochter. "Papa" war nun in Verlegenheit. In der jungen
Gemeinde gab es noch keine Burschen, wenigstens keine solchen, die in diesem Falle
als passende Gelegenheit in Betracht kommen konnten
(*) Die Verfasserin gestattet
mir wohl an dieser Stelle das Wort zu einer kurzen Anmerkung: Im allgemeinen lassen
sich die jungen Landmaedchen leichter fuer religioese Sondergemeinschaften gewinnen
als die Burschen; denn die Zugehoerigkeit zu dergleichen Sekten legt den Ausserungen
ueberschaeumender Lebenslust immerhin gewisse Beschraenkungen auf. Die Beteiligung
an weltlichen Vereinsfesten, Tanzlustbarkeiten und aehnlichen Vergnuegungen, "wo
der Teufel umgeht", ist nicht erlaubt, auch wird jede sonstige Gelegenheit zum
zwangslosen Verkehr mit dem andren Geschlecht - Spinnstubenbesuch, gemeinsame
Spaziergaenge an Sonntagabenden, ueberhaupt alle Veranstaltungen, wie sie
althergebrachte Dorfbraeuche zur Belustigung des jungen Volkes im Gefolge haben -
nach der "Bekehrung" gaenzlich unterbunden. Die Leiter neubegruendeter separatistischer
Vereinigungen geben sich anfangs keine besondere Muehe, den maennlichen Nachwuchs
einzufangen, sondern verlassen sich auf einen Koeder in ihrem "Fischernetz", dessen
Wirkung schliesslich nicht ausbleibt. Die jungen Burschen kommen naemlich ganz von
selbst, sobald eine groessere Schar begehrenswerter Maedchen einer Sekte angehoert
und sich die Bewerber davon ueberzeugt haben, dass sie andernfalls auf eine
Erhoerung bei den frommen Schoenen nicht rechnen duerfen. Nicht weniger laestig wird
der auferlegte Zwang mitunter von weiblicher Seite aus empfunden. (Vgl. hierzu die
Skizze in Heft 2, Seite 74, der "Hessischen Lesestube".) Die Sachlage aendert sich
jedoch, wenn eine geschlossene Gemeinschaft mit der Zeit ueber eine genuegende Zahl
von Jugendlichen beiderlei Geschlechts verfuegt. In diesem Falle schafft man durch
Einrichtung von gemischten Choeren, Veranstaltung von Auffuehrungen und sonntaeglichen
Ausfluegen vollkommenen Ersatz fuer die entbehrten "weltlichen" Freuden. Der
gegenseitige Verkehr kann sich nun ebenso ungehindert entwickeln wie bei der
sogenannten "verlorenen" Jugend, die uebrigens in ihrem Tun und Treiben weit
schaerfer dem Auge der Oeffentlichkeit ausgesetzt ist. Was die Eheschliessungen
anbelangt, so ist eine Wahl innerhalb der Sekte die Regel. Hierbei werden aus
altbaeuerlichen Anschauungen hervorgehende Erwaegungen, die auf dem Lande immer noch
der Frage nach moeglichster Gleichheit des Vermoegens und sozialer Stellung innerhalb
der Dorfgemeinde ihre Entstehung verdanken, vielfach ueber den Haufen geworfen. Auf
solche Weise gelingt es manchem ansaessigen Sektenfuehrer, seinen Soehnen und
Toechtern Eingang in Familien zu vermitteln, deren Tueren ihnen sonst unter allen
Umstaenden verschlossen geblieben waeren, zumal der blindes Vertrauen geniessende
predigende Reisebruder in diesem Falle sich als Heiratsvermittler mit Vorliebe
dankbar erweist fuer die mancherlei leibliche Erquickung, die ihm zuteil geworden
ist, und die erstrebte Verbindung als im Wunsche des "Geistes" liegend hinzustellen
sich nicht entbloedet. D.H.).
Vielleicht der mit der Rosenknospe im Knobloch? Ja,
der ginge schoen, aber dann mussten ihm erst Elisabeth, das Maedchen seiner Wahl,
aus den Augen geschafft werden, weil der "Apostel" diesen Bund ferner nicht segnen
wollte. Paul, der junge Mann, liess sich die guten Leckerbissen, die ihm in der
Familie Steinherz geboten wurden, gern gefallen und ruhte sich nach des Tagen
Last und Muehe behaglich auf dem weichen Sofa aus, das in ihrer Stube stand. Er
dachte aber nicht im entferntesten daran, dass die Tochter als Zugabe fuer ihn
ausersehen sei; denn sein Herz gehoerte Elisabeth. Wie ein Donnerschlag traf ihn
daher der Befehl "Jesu", einer Liebe zu entsagen. Doch er fuegte sich in Demut dem
harten Spruch und ging stillschweigend davon.
Nun gebot "Papa" Elisabeth und ihren Schwestern, die Stadt Giessen zu verlassen und in Frankfurt Stellen anzunehmen. Auch sie gehorchten ohne Widerrede. Ihre erste Zuflucht fanden sie im dortigen Marthahaus. Wie wurden sie in der Gross-stadt enttaeuscht! Stellen waren genug da, die Maedchen hatten auch gute Zeugnisse. Aber von der Bedingung, Erlaubnis zum Besuch allsonntaeglicher Versammlungen, wollte keine der Herrschaften etwas wissen. So wanderten sie umher, bis sie gaenzlich mittellos waren und nunmehr in ihrer Not Stellungen nehmen mussten, ohne die Erlaubnis, von der sie zuerst nicht abstehen wollten, erhalten zu haben.
Paul war trotz des Verbotes vorher noch mit Elisabeth in Giessen zusammengetroffen. Es fiel ihm gar zu schwer, von seinem geliebten Maedchen zu lassen, obwohl ihm der "Apostel" fuer Ersatz gesorgt hatte. Damals wusste Elisabeth noch nichts von der Forderung des "Apostels". Spaeter, als sie sich das Schweigen ihres Erkorenen nicht erklaeren konnte, machte sie ihm die bittersten Vorwuerfe und forderte Aufklaerung. Das war eine verzweifelte Lage fuer den Armen, der mit Furcht und Zittern zu seinem Gebieter aufschaute und ihm, wenn auch mit blutendem Herzen, gehorsam war. Was sollte er machen? Er reiste heimlich zu Elisabeth und teilte ihr "Gottes" Willen mit. Sie zweifelte jedoch an der Wahrheit seiner Erzaehlung. Sie konnte und wollte es nicht glauben. Hatte "Papa" ihr Verhaeltnis nicht geduldet und gefoerdert? Nein, Paul will untreu werden, er hat sich bloss hinter den "Apostel" gesteckt, er will "Papa" als Entschuldigungsgrund fuer seinen Rueckzug benutzen. Aber sie wird es dem "Apostel" mitteilen, und dann geht es dir schlecht, Paul!
"Papa" wusch sich bei Elisabeth rein, er log alles weg, und Paul bekam das "apostolische" Donnerwetter auf den Hals, weil er "Papa" verraten hatte. Ja, der Apostel hatte die Macht, zu binden und zu loesen. Er hat auch bei Paul seinen Ratschluss durchgesetzt, es war eben keine andre Gelegenheit fuer das Fraeulein mit dem Sofa da. Fuer Elisabeth und ihre Schwester hatte der Gewaltige andre Partien in Frankfurt auf Lager. Aber die Maedchen haben sich fuer die Mahlzeit bedankt.
Ein doerflicher Witzbold sagte damals mit Bezug auf diese Art von Eheschliessungen: "Sie freieten sich und liessen sich freien, bis Noah in die Arche ging, aber die Apostolischen freien in ihrer Arche immer feste weg." Ich will dieses Gebiet hier nicht weiter streifen. "Mann glaubt es nicht, was vorgeht," habe ich spaeter oft gesagt. Und manchmal ist es mir gewesen, als habe ich das alles nur getraeumt, aber es ist W a h r h e i t, es sind E r l e b n i s s e, die ich erzaehle.
Meine Toechter waren trotz alledem dem "Apostel" und den sonstigen Gebietern untertan. Ich versaeumte es nicht, ihnen haeufig dringende Vorstellungen zu machen, allein der muetterliche Einfluss war nicht mehr derselbe wie frueher; denn der "Jesus von heute" stand als Scheidewand zwischen den Herzen der Eltern und Kinder und rief: "Wer nicht verlaesst Vater und Mutter um meines Namens willen, der ist meiner nicht wert!" Dennoch beantworteten sie meine Briefe und sandten auch Geld nach Haus. Als der "Apostel" hinter diesen Ungehorsam kam, da brach das Gewitter los. Naechster Gottesdienst: drei Maedchen knieen vor dem Altar. "Jesus" fordert durch den Mund des "Apostels" Schwur und Geluebde, s i c h v o e l l i g v o n d e n E l t e r n l o s z u s a g e n, alle ihre Briefe ungelesen zu verbrennen, ihnen niemals mehr Unterstuetzungen irgend welcher Art zukommen zu lassen. Arme, arme Kinder! Da liegen sie im Staub und stoehnen und wimmern. Und unter den heftigsten Zuckungen und Schuettelungen schmettert der "Prophet" ein "Wehe!" auf das andre ueber sie hin und erzwingt endlich durch Androhung und Prophezeiung der furchtbarsten zeitlichen und ewigen Strafen im Falle weiteren Ungehorsams gegen den "Apostel" das Ja-wort der Maedchen. Lieschen, dem sich das Herz zusammenkrampfte, das dem Draengen am laengsten widerstanden hatte, erzaehlte spaeter: "Ich dachte, ich muesse sterben, mein Herz zuckte, ich fiel um und kruemmte mich, ich konnte nicht mehr atmen. Aber der "Prophet" hatte kein Erbarmen mit mir, immerfort schrie er sein schreckliches "Wehe, wehe!" Da erbarmte sich ein Herr aus der Versammlung meiner. Er war ein Apotheker, der auch ein "Amt" trug. Er ging zu mir, hob mich auf und sprach: "Sprich nur ja!" Es war ihm zu peinlich, das ansehen zu muessen."
Spater hat dieser Herr dem "Apostel" den Ruecken gekehrt, wie noch viel andre Maenner, denen das Licht ihres Verstandes wieder aufgegangen war. Z.B. einem gewissen S. aus H. in hiesiger Gegend. Dieser sagte dem "Apostel", er glaube nicht, dass es Jesu Worte waeren, sondern eigne Gedanken und Worte seien es, die aus des "Apostels" Mund kamen. Der Fall war sehr hart fuer die Gemeinde, ja fuer den ganzen "Stamm Juda"; denn der Abtruennige konnte gut predigen, besass ein geraeumiges Haus, beherbergte die Versammlung und war freigebig im Bewirten der "Amtstraeger." Wie mir damals erzaehlt wurde - ich bin nicht Augenzeuge gewesen - soll ein fremder "Apostel" zu Hilfe gerufen worden sein. Dieser habe den S. an den Schultern gefasst und ihm fest in die Augen gesehen. Als er aber sah, dass seine Macht wirkungslos war, soll er gesagt haben: "Ihr Wille ist staerker als der meine."
Daraus geht hervor, dass dem "Apostel" keine Willensmacht bewusst ist, mit der er Tausende so unterjocht, dass sie seine Autoritaet anerkennen muessen. Ist er selbst einer Autosuggestion so unterlegen, dass er sich wirklich fuer einen Apostel und den fleischgewordenen Jesus haelt auf Grund des Bibelwortes: "Wer euch hoeret, der hoeret mich?" Gott weiss es! Oder sollte doch von Zeit zu Zeit ein grosses Fragezeichen in seinem Gewissen auftauchen? Oder stuetzen die heutigen "Apostel" ihre Berechtigung zur Fuehrung dieses hochtrabenden Titels auf ihren aeusserlichen Erfolg? Halten sie es fuer richtig, ueber andre Menschen zu herrschen, ueber grosse Opfer und mitunter den "Zehnten" zu verfuegen? Wenn sie wirklich ueber die gemeinen Glieder erhaben sein wollen, so muessten sie das dumme Zeug und viele an Hanswurstigkeit grenzenden Vorkommnisse als das erkennen, was sie wirklich sind, und ruegen. Es ist doch kein laeppiges Kinderspiel, zu rufen: "So spricht der Herr!" Spricht wirklich der Herr? G e b t A n t w o r t, i h r a p o s t o l i s c h e n S a c h v e r s t a e n d i g e n, gebt sie eurem Gewissen, ihr Herren, wenn diese Zeilen euch finden sollten! Oder seid ihr noch fester gebunden in eurem Wahn wie ich einst gebunden war? Auch mir daemmerte zuweilen ein Lichtlein eignen Denkens, und manches auftauchende Fragezeichen habe ich gewaltsam weggeputzt, sobald es in meinem Herzen auftachte.
Niemals konnte ich es begreifen, wenn "Papa" sich ueber einfaeltig glaeubige Gemueter lustig machte. So erzaehlte er einmal, dass eine "Schwester" viele Stunden wegs zu Fuss gemacht habe wegen eines schlimmen Fingers, um Heilung bei ihm zu suchen. Er habe ihr gesagt, sie solle sich ein Laepplein darum wickeln, das taete er auch, wenn er eine Wunde am Finger habe. Wie herzlos das war, und wie hat er ihre glaeubige Einfalt mit Hohn belohnt! Jedenfalls hat er aber doch mit ihr gebetet und sich bloss hinter ihrem Ruecken ueber ihre Einfalt lustig gemacht zur Kurzweil und zum Ergoetzen. Ob es sicht nicht ebenso verhielt, wenn er uns jungen Gliedern ein Bild der "Entrueckung" vorspiegelte? Wer weiss es? Ich nicht.
Ein sechzigjaehriger Greis aus Giessen wohnte den allsonntaeglichen Versammlungen bei und zahlte regelmaessig monatlich den Z e h n t e n s e i n e r R e n t e mit 20 Mark. Einmal ging ich mit dem Herrn "Apostel" und seinem gehorsamen Diener Paul ueber die Strasse und lauschte der Unterhaltung beider. Was ich da zu hoeren bekam, machte mich stutzig. Man wollte naemlich nichts mehr von dem greisen Alten wissen. Er machte sich unangenehm und taete bei seiner Taubheit auf der Strasse so laut ueber das "Werk" sprechen, dass die Leute aufmerksam auf ihn und seine Reden wuerden. Noch mehr hatten sie an ihm auszusetzen. Was aber die Hauptsache war: der Alte verweigerte das Opfer des "Zehnten" in der seitherigen Weise. Er wollte zwar die monatlichen 20 Mark weiterzahlen, aber s e l b s t ueber die Verwendung verfuegen, oder doch wissen, wohin das Geld kaeme. (Das war sehr vernuenftig von dem alten Herrn. D.H.) E s p a s s t e d e m H e r r n "P a p a" a b e r n i c h t, und Paul gab sein Ja und Amen dazu. Ich aber hatte zu tun, um wieder einmal das aufflammende Fragezeichen zu verwischen. Auch die Apostelfamilie gab mir zu denken. Konnte "Papa" wirklich so gleichgueltig in Bezug auf seine e i g n e n, l e i b l i c h e n Kinder sein, wenn ihm die Gewinnung a n d r e r so sehr am Herzen lag? Die ganze Familie schien wenig Interesse am Werk zu haben, sofern nicht ein irdischer Vorteil in Betracht kam. Ich will andre Beobachtungen, das sittliche Leben der Familienangehoerigen betreffend, hier mit Stillschweigen uebergehen.
Einmal sagte "Papa" zu mir: "Glauben Sie, Schwester, wenn ich nichts in mir fuehlte, das es mir sagt, ich wuerde es zu behaupten wagen, ich sei ein Apostel?" Vielleicht wollte er meinen Glauben an seine "Goettlichkeit" mit dieser Frage staerken. Wenn es der Fall gewesen ist, so hat er das nicht bezweckt, was er wollte. Ich erschrak foermlich, und der Gedanke machte mir zu schaffen, als ob er selber seine Apostelschaft nicht ganz sicher sei. Doch hielt diese innere Beunruhigung nicht lange an, denn der "Apostel" predigte ja so gewaltig und nicht wie die "Schriftgelehrten" und "Pharisaeer" der Gegenwart. Wer mit diesen gemeint war, darueber bestand in unserer Gemeinde kein Zweifel. "Heute war ich im Geist bis vor dem Thron Gottes," hat er einmal in einer Predigt ueber das Wort: "Es werde Licht!" gesagt. Das habe ich damals geglaubt.
"Nein, Lisa, das haette ich hinter dir am allerwenigsten gesucht," sagte spaeter einmal der Lehrer Hochfeld zu mir, "aber du warst fuer kein vernuenftiges Wort zugaenglich, du warst vernagelt und misstrauisch gegenueber jedem Zuspruch, fuer jede wohlgemeinte Aufklaerung, die laecherlichsten Sachen, die dir aufgetischt wurden, nahmst du bitter ernst, und allen Einwaenden begegnetest du mit den Worten: "Euch (den "Aposteln") ist gegeben, zu verstehen alle Geheimnisse des Reiches Gottes."
Guter Lehrer, verzeihen Sie, wenn ich Ihnen heute sagen muss: "Das verstanden Sie nicht!" Waeren die "apostolischen Glieder" ueberhaupt noch fuer irgend eine Belehrung zugaenglich, waeren sie nicht so fest in der Macht des "Apostels" und seiner Helfer, so wuerde es mit der Herrlichkeit bald ein Ende nehmen. Der Hauptzweck aller "apostolischen" Predigten gipfelt darin, den Hoerern klar zu machen, dass die hoechste Erkenntnis, die groesste Weisheit ein Vorrecht dieser Gesellschaft sind, alle uebrigen Prediger, seien es landeskrichliche Pfarrer, oder seien es Sektenprediger, sind einfach I r r l e h r e r. Davon sind auch alle echten "Glieder" felsenfest ueberzeugt. Kein Wunder, wenn sie fuer "minderwertige" Belehrung nicht zu haben sind. Waere mir eine Erklaerung von den uebertragbaren Willenskraeften der Menschen worher zuteil geworden, als ich noch mit Schaerfe zu denken wusste, dann waere mir manches Leid erspart geblieben. Sitzt eine Seele erst im Netz, dann ist es zu spaet. Der Wille des Hypnotiseurs gibt den Ausschlag: weder Klugheit noch Dummheit des Beeinflussten faellt in die Wagschale, sondern nur die freiwillige, oder gezwungene Hingabe des eignen Willes. So aehnlich wirbt man die Anhaenger in der "Apostelgemeinde." Freilich nennen sie sich nicht Hypnotiseure, die "Apostel" und "Priester", sondern "Willenscharaktere".
Wie stehe ich nun heute zu denen, die mich damals in ihrem unheilvollen Bann hatten, die mich und die Meinigen so elend machten? Ich habe keinen Hass mehr gegen diese Leute. Die schlimmsten meiner Bedraenger leben schon laengst nicht mehr. Der Aerheimer Wilhelm und der Frankdorfer Henner starben damals kurz nach dem Auftritt in Reimsfeld, und ein dritter "Diener", der aber mehr gutmuetig war, folgte ihnen bald darauf. Elsa, die ich von Kind an gekannt und geliebt, ist langsam dahingesiecht und im besten Alter gestorben. Ich habe ihr von Herzen verziehen, dass sie sich von ihrem vermeintlichen "apostolischen" Pflichtgefuehl dazu verleiten liess, mich zu verraten. Und die anderen? Soll ich sie hassen, weil ich frei geworden bin und sie noch in ihrem Wahn gebunden sind? Heute sei es ganz anders in der Gemeinde, sagten mir ehemalige "apostolische Schwestern", heute verstehe ein einfaches Glied mehr wie damals die "Diener". Ich liebe die Frauen noch immer, aber i h r "Verstehen" kann und will ich nicht teilen. Ich will keinen Mittler mehr zwischen mir und meinem Gott von der Art dieser "Apostel", ich will aber auch nicht mehr in solche gedrueckten irdischen Verhaeltnisse kommen, wie sie bei uns durch unsre Zugehoerigkeit zur Apostelgemeinde heraufbeschworen wurden.
Fast gleichzeitig und ohne gegenseitige Verabredung kamen bei meinen Toechtern, wovon drei in Frankfurt und zwei in Wetzlar wohnten, die Bedenken ob der Richtigkeit des "Werkes". Mancherlei Beobachtungen machten sie zuerst gleichgueltig gegen "Gottes Werk von heute", und schliesslich kam es zum Abfall von dem "fleischgewordenen Jesus".
Die Wetzlarer nahmen Anstoss am Wandel eines Dienstmaedchen, das in der Versammlung eine gewisse Rolle spielte. Dieses Maedchen verstand sich ebensogut auf das "Weissagen" als auf das Bekennen seiner Verfehlungen, d. h. wenn diese nach Wochen ruchbar wurden durch seine eigne Geschwaetzigkeit, nicht etwa durch den "offenbarenden Geist". Hatte es sich wieder ganze Naechte lang umhergetrieben, dann dachten meine Toechter wohl, was das jetzt geben werde, wenn es der Herr durch "Weissagung" offenbaren wuerde. Zu ihrer Verwunderung blieb alles ruhig, bis schliesslich dem "Amtstraeger" der unordentliche Lebenswandel des Maedchens auf ganz natuerlichem Weise bekannt wurde. Natuerlich gab's dann Spektakel. Bettchen kniete und weinte so lange, bis ihr die Vergebung des "apostolischen Herrn" durch Handauflegen zugesagt wurde. Dieses Schauspiel hat sich mehrmals wiederholt. Dadurch wurden solche Glieder, die noch einen Rest von gesundem Menschenverstand besassen, am ganzen "Werk" irre und begannen zu zweifeln.
Auch die Frankfurter kamen endlich zur Erkenntnis, dass man sie nur ausnuetzte uns zogen sich allmaehlich unter allerlei Vorwaenden vom Gottesdienst zurueck. Mit Bangen und Herzklopfen warteten sie dann jedesmal, wenn sie an einer Versammlung teilnahmen, auf die Ruege und die Strafe durch den "weissagenden Geist". Doch es schien, als ob dieser nichts wisse. Nein, er wusste wirklich nichts. Unterdessen war meine eine Tochter von Wetzlar nach Frankfurt gekommen. Selten nur sahen sich die Geschwister; nur wenn sie einmal auf denselben Sonntag dienstfrei waren, trafen sie sich, und vorlaeufig wagte keines dem andren seine Abneigung, nicht allein gegen das "Werk", sondern auch gegen die Glieder zu gestehen. Schliesslich hatte jede fuer sich die Versammlung wochenlang versaeumt, bis sie sich endlich aussprachen und einig wurden, nie wieder hinzugehen. So waren sie frei geworden, ohne viel Anfeindungen zu erleben; denn die "Diener" durften sich nicht unterstehen, ihnen in die Herrschaftswohnungen nachzulaufen. Und nun merkten die Schwestern erst, welchen finanziellen Schaden sie durch ihren Beitritt zu der Sekte gehabt hatten. Alles verdiente Geld war draufgegangen, teils durch den Stellenwechsel auf Befehl des "Apostels" und die damit verbundene laengere Stellenlosigkeit in Frankfurt, teils durch dargebrachte "Opfer" und Ausgaben, die ihnen durch mehrmalige Uebernahme von Patenschaften in apostolische Familien erwachsen waren.
Eltern und Kinder fanden sich wieder! Die Traurigkeit und der tiefe Trennungsschmerz hatten sich in Wiedersehensfreude verwandelt. Und nun verdoppelten die Kinder ihre Anstrengungen, um den Eltern, ueber die der "Apostel" so grosses Ungemach gebracht hatte, wieder aufzuhelfen. Nur die verheiratete Tochter konnte sich noch nicht von der Gemeinschaft losmachen. Obwohl auch sie innerlich von der Torheit des sogenannten "Werkes" ueberzeugt war, blieb ihr Gatte doch "Glied" mit Leib und Seele.
Der liebe Leser moechte wohl auch gerne erfahren, wie es bei der apostolischen Gemeinde mit der "T o t e n v e r s i e g e l u n g" gehalten wird, falls er davon schon gehoert hat. Ich habe niemals gern hierueber gesprochen; da ich aber diese Blaetter nicht zur Unterhaltung, sondern zur Belehrung und Warnung beschreibe, so will ich auch in diesem Punkte mit meinen Erlebnissen nicht hinter dem Berge halten. Immer, wenn die "Diener" wieder neue Mitglieder angeworben hatten, kam der "Apostel", um die "Versiegelung" vorzunehmen. Dieses Recht stand ihm ganz allein zu, waehrend Predigen und das Abendmahlreichen auch den "Dienern" erlaubt ist. Dann knieten in der Reihe derer, die "versiegelt" werden sollten, auch solche, die dieser Gnade schon teilhaftig geworden waren. Sie nannten dann die N a m e n v o n V e r s t o r b e n e n, fuer welche sie das "Siegel" begehrten, um deren Seelen der Schar der Auserwaehlten zuzufuehren. Was denkt ein vernuenftiger Mensch dazu? Muessen wir armen Sterblichen dazu mithelfen, dass der allwissende und allguetige Gott die ohne "Siegel" Dahingegangenen noch nachtraeglich zu Auserwaehlten annimmt? Eigentlich ist der Akt schauerlich. Die meisten "Glieder" waren sich darin einig, einen kalten Luftzug verspuert zu haben, als die Verstorbenen gerufen wurden.
Es ist wirklich grausig, wenn der "Apostel" ruft: "I h r T o r e d e s T o d e s, t u t e u c h a u f!" Das liegt schon in der Natur der Sache, wenn es da manchen kalt ueberrieselt. Darauf erfolgt nun eine Ansprache an die Toten, welche schliesslich von den "visionaeren" Gliedern auch g e s e h e n werden. Der "Apostel" zeichnet das fuer die Verstorbenen bestimmte Ringelchen auf die Stirn ihres Stellvertreters, erteilt ihnen seinen Segen und entlaesst sie wieder zu ihrer Grabesruhe. Das ist die "Totenversiegelung", wie ich sie miterlebt habe. Wie man es heute damit haelt, das wuesste ich nicht und wuerde auch nicht danach gefragt haben, wenn mich nicht ein Blatt ihrer Zeitschrift, das mir zufaellig unter die Augen kam, belehrt haette, dass diese Torheit gegenwaertig noch ebenso im Schwunge ist wie vor 12 bis 15 Jahren.
Ganz besonderer Art waren auch die Leichenpredigten. Ein nicht engeweihter Zuhoerer koennte da wohl sagen, es waere eine schoene, erbauliche Predigt gewesen. Er weiss aber nicht, wer der "Jesus" ist, von dem die Rede ist, der den Verstorbenen zu sich nehmen soll. Als Gegenstueck will ich den Text einer Hochzeitsfeier erwaehnen: "Wenn du einen Nackten siehst, so bekleide ihn" usw. Das legt der "apostolische" Priester also aus: Ziehe ihm die Kleider des Heils an, traenke ihn mit dem Lebenswasser "apostolischer" Lehre und fuehre ihn in das Haus der "apostolischen Gemeinde". Das sind Auslegungen - vielmehr Zurechtweisungen -, bei denen der Geldbeutel der Glieder keine Not zu leiden braucht.
Die Frage liegt nahe, ob denn der berufene Seelenhirte, der zustaendliche O r t s g e i s t l i c h e, alle diese Vorgaenge unter seinen Augen ruhig geschehen liess, ob er untaetig zusah, wie der "apostolische" Wolf in seiner Herde brach, ohne sich mit ihm auseinanderzusetzen. Ich habe schon erzaehlt, wie eine Unterredung mit dem Herrn Pfarrer, die ich herbeigefuehrt hatte, verlief. So freute ich mich denn koeniglich, als ich hoerte, dass Herr Pfarrer B. einer Abendversammlung beiwohnen wollte. Trotz all meiner Begeisterung fuer das "Werk" glaubte ich damals immer noch in der Landeskirche bleiben zu koennen und empfand eine Art von Genugtuung darueber, dass der Herr Pfarrer nun auch Augenzeuge von den merkwuerdigen und wunderbaren Begebenheiten sein wuerde, von denen ich ihm berichtet hatte. Weniger waren die "Diener" erfreut ueber den angekuendigten Besuch. Sie hatten ein geheimnisvolles Fluestern miteinander. Die Stube war gedraengt voller Leute, die anlaesslich des Pfarrerbesuchs gekommen waren. Ich nickte dem Geistlichen freundlich gruessend zu, doch schien derselbe in mehr widerwilliger Stimmung das Zimmer zu betreten. Auch der Lehrer war mitgekommen, und beide nahmen unter den Zuhoerern Platz, dicht hinter der Bank, auf welcher ich neben Peter sass. Es wurde ueber die Seligpreisungen gepredigt. Das muss doch sicher Bewunderung bei dem Pfarrer erwecken, dachte ich mir. Am Schlusse entledigte sich der Pfarrer seines Auftrags und stellte verschiedene Fragen an die Prediger, welche nur ganz kurze, trotzige Antworten gaben, statt, wie ich erwartete, klare Auskunft ueber das "Werk des Herrn". Ich wurde nun versucht, selbst Worte der Erklaerung zu reden, hielt jedoch trotz des Draengens in meiner Brust an mich. Ich war in grosser Spannung, wie die "Diener" dem Pfarrer die Sache erklaeren wuerden, hoffte auf die gleiche Belehrung betreffs der "Gaben", wie sie uns gegeben worden war. Damals wusste ich noch nicht, dass die Sekte eine direkte Gegenerin der Landeskirche und auch aller uebrigen Gemeinschaften sei. In dieser Beziehung war ich wie ein Kind.
In meiner furchtbaren Erregung und in dem Drange, dem Pfarrer Aufschluss zu verschaffen, fuhr mein Koerper ploetzlich mit einem maechtigen Ruck zusammen, meine Glieder zuckten und zitterten ohne mein Zutun, so dass der Stuebenboden bebte und die Fenster klirrten. Ich fand dabei nichts Besonderes, hatte ich solches doch schon so oft gehoert und gesehen, wenn auch nicht mit solcher Staerke wie diesmal. Ich war bei vollem Bewusstsein und musste laecheln ueber die erschreckten und veraengstigten Gesichter der Anwesenden. Mit Zuversicht wartete ich auf eine "Weissagung", war aber vorsichtig genug, meine Gedanken nicht im Augenblick des Dranges als "Gottes Wort" hinauszuschreien. Trotzdem entfuhren mir einzelne Worte. Waere ich damals im Traumzustand gewesen, was wuerde durch meine Stimme ohne mein Wissen nicht alles zutage gefoerdert worden sein! Doch mein Bewusstsein war nicht geschwunden, und ich fuehlte - das ist mir heute erst recht klar - was in mir vorging. Aus gewissen Gruenden will und muss ich's verschweigen. Ueberdies weiss ich selbst nicht, ob ich im Falle der Einschlaeferung meines Ich-bewusstseins bei der Aufrichtigkeit, mit der ich die W a h r h e i t suchte, f u e r oder g e g e n das Werk gesprochen haette. Es war kein Erwarten der "Gaben", das mich so gepackt hatte, sondern nur die spannende Erregung. Ich koennte noch weitere Vorgaenge dieser Art erzaehlen, allein es moechte dem Leser aehnlich gehen wie damals dem Pfarrer und dem Lehrer. Sie sind auf und davongelaufen. Es hat ihnen gegruselt.
Natuerlich waren meine persoenlichen Erfahrungen nicht alle so schrecklicher Art. Spielt das Luegen und Betruegen unter den sogenannten "Begabten" auch eine hervorragende Rolle, so ist es doch nicht ausgeschlossen, dass man unter falschen Geldstuecken auch einmal ein echtes findet, eine wirklich aufrichtige Seele. Letzteres wird der Finder aber der Allgemeinheit nicht preisgeben, wenn er die falschen Muenzen von sich wirft. Meine Erfahrungen in dieser Sekte ueberschwaenglicher Ideen haben mich nicht vom Vorhandensein des "Hellhoerens" und "Hellsehens" ueberzeugt, vielmehr von einem Wirrwarr ungeordneter seelischer Vorgaenge. Suggestion und Autosuggestion verschliessen hier jeglicher Aufklaerung den Zutritt, sie knechten viele Tausende von Menschen, hauptsaechlich aus den unteren Schichten des Volkes, wenn auch bessere Staende vertreten sind.
Nun war ich irre geworden, sowohl an der Kirche meiner Vaeter als auch an dem neuapostolischen "Werk". Von der landeskirchlichen Geistlichkeit wurde ich foermlich gemieden. Mein guter Freund, Herr Pfarrer T., stand mir kuehl gegenueber. Wo sollte ich hin? Zuruecktreten in den Schoss der Landeskirche? Vorlaeufig blieb ich fuer mich. Auch sonst hatte ich mancherlei Nachteile. So wurde mir, um ein Beispiel anzufuehren, das Amt der Handarbeitslehrerin an der Volksschule genommen. Hier und da folgte ich Einladungen zu den verschiedenartigsten religioesen Versammlungen und Veranstaltungen. Unter manchem Schoenen und Guten fand ich dort ebensoviel Abstossendes und Verkehrtes, das sich mit der Lehre Jesu so wenig vertrug wie manches in der landeskirchlichen Gemeinde. Um den Buchstaben wird herumgestritten, Muecken werden geseiht und Kamele verschluckt, u m d i e S c h a f e w i r d s i c h g e r i s s e n, u n d d e r K e r n g e h t v e r l o r e n. Jede Gemeinschaft behauptet das Rechte gefunden zu haben. Und dabei ueberall so viel toenendes Erz und klingende Schellen. Die Hauptsache fehlt in der Regel dem mancherlei Glauben, den auseinandergehenden Anschauungen - die L i e b e. Die wahre, selbstlose, erbarmende Liebe, die sich mit den Froehlichen freut, die mit den Traurigen weint. Nicht, als ob sich nicht in allen Lagern wahrhaft ernste Christen befaenden, nein, es wird mitunter alles zu einseitig, zu schablonenhaft betrieben. Auf Buchstabenreiterei und Wortgezaenke laeuft alles hinaus.
Unter allerlei Volk, das unter dem Himmel ist - wer Gott fuerchtet und recht tut, der ist ihm angenehm. Unkraut und Weizen stehen ueberall beieinander, und sicherlich kommt es weniger auf die Form als auf den Inhalt an. So dachte ich schliesslich und ging z u r L a n d e s k i r c h e z u r u e c k, dorthin, wo ich meine erste Belehrung ueber Gott und sein Werk erhalten hatte. Damit will ich nicht sagen, dass mir alles an ihr gefaellt; aber ich gefalle ja auch nicht allen Leuten, und sie dulden mich trotz meiner Fehler und laufen deswegen nicht von mir fort. Ich glaube, dass Gott einer Seele naeher ist, die sich ihm in der Stille zuwendet, ohne sich nach aussen hin in den verschiedensten Foermlichkeiten zu ergehen, um dem Buchstaben zu genuegen, einer Seele, die ihrer Liebe zu Gott in der Naechstenliebe betaetigt, die sich nicht auf eine "Bekehrung" durch irgend einen Wanderprediger zweifelhafter Herkunft stuetzt, auf eine Bekehrung, die sehr oft zum Ruhekissen fuer das schlummernde Gewissen wird. Bekehrung von seinem gottlosen Wesen tut jedem Suender, also jedem Menschen not, aber nicht Bekehrung zu einer hochmuetigen Demut, sondern zu der echten, wahren Demut, die den Hochmut des eignen Herzens einsieht, das sich so gerne mit seiner Demut bruestet und nicht selten Geiz, Habgier und Gefuehllosigkeit gegenueber fremder Not behaglich beherbergt. Alle Anerkennung zolle ich schon der Ablegung grober Suenden, solcher, die nach aussen hin in Erscheinung treten und der Aneignung eines ehrbaren Lebenswandels, der allen Menschen sichtbar ist, aber damit allein ist es nicht getan. "Es gehet nicht, wie ein Mensch siehet. Ein Mensch siehet, was vor Augen ist, der Herr aber siehet das Herz an." Auch in der Landeskirche erkennt er die Seinen und wird sie zu finden wissen. Viel habe ich ueber mich ergehen lassen muessen. Mein Tun und Lassen muss ich noch heute dem Urteil mancher Splitterrichter und Duckmaeuser unterwerfen. Es sicht mich nicht an. Vieles erwaege ich noch, was mir nicht an der Stirn geschrieben steht, vieles, was seinen Platz in diesen Zeilen finden kann.
"Weit ueber Berg und Huegel
Sein Wort toent wunderbar.
Einst wachsen mir die Fluegel,
Dann wird mir alles klar."
Seit ich apostolisch geworden war, hatte ich kirchliche Missionsfeste nicht mehr besucht. Einmal, weil sich das mit der neuen Lehre nicht mehr vertrug und zum andern, weil ich von landeskirchlicher Seite als Urheberin der neuen Sekte vielfach schief angesehen wurde.
Wieder war Missionsfest in Hochdorf. Ich folgte dem Zug meines Herzens und hoffte bei dieser Gelegenheit auch etwas ueber den kranken Fuersten und dessen Familie zu erfahren. Ich schaemte mich meiner Undankbarkeit, mit welcher ich vor Jahren um "Jesu" willen das Wohlwollen des fuerstlichen Hauses gelohnt hatte. Darum unterliess ich es auch diesmal, mich den Herrschaften zu nahen, trotzdem ich zu meinem grossen Leidweisen erfuhr, wie sehr krank der gute Fuerst darniederlege. Wie gern haette ich naeheres gewusst, und wie sehnte ich mich nach Verzeihung! Auch meine Toechter waren von Wetzlar heruebergekommen. Als wir auf dem Heimwege vom Fest, in innigster Liebe vereint, nochmals mit Wehmut des leidenden Fuersten gedachten, begegneten uns zwei Herren, die meine Tochter Kathrinchen als S. Durchlaucht den Erbprinzen von Hochdorf zu Talstadt und dessen Schwager, S. Erlaucht den Grafen von Lohna, einen Schwiegersohn des kranken Fuersten, erkannte. Kathrinchen fasste sich den Mut, die Herren zu begruessen und wir erfuhren nun, dass sich das Befinden des Fuersten in letzter Zeit etwas gebessert habe.
Schon am naechsten Tage wurden meine beiden Toechter im Schloss zu Hochdorf empfangen. Beglueckt und gleichzeitig in tiefer Wehmut kamen sie zu mir zurueck. S. Durchlaucht hatten sich nach den Eltern erkundigt und gefragt, warum wir nicht frueher gekommen waeren und alles gesagt haetten. O wie sehr wuenschten wir, dass der gute Fuerst gesunden und den Seinen noch lange Zeit erhalten bleiben moege! "Gedenket meiner im Gebet!" hatte er beim Abschied zu meinen Toechtern gesagt. Manche heisse Bitte um seine Genesung ist zu Gottes Thron emporgestiegen. Doch es war in den Allweisen Ratschluss anders beschlossen. Ich habe meinen Wohltaeter nicht wiedergesehen. Am 16. September 1899 verkuendeten die Glocken in Hochdorf den Heimgang des Fuersten. Nicht nur in die Huetten der Armen, sondern auch in die Schloesser der Reichen finden das Leid und der Trennungsschmerz ihren Weg.
Wie lange ist das alles schon her! Ich habe viel Sorgen und Muehe gehabt im Leben, und ich habe sie noch. Aber ich bin frei. Frei von dem Banne, der mich ehemals als "lebendigen Stein des neuapostolischen Tempels" mein Schicksal nicht so gestatten liess, wie ich es haette gestatten koennen. Kein "Jesus von heute" beeinflusst mehr meinen irdischen Pilgerweg. Von meiner vermeintlichen Hoehe bin ich herabgestiegen und lebe als Christ unter Christen, als Mensch unter Menschen, und im Bewusstsein meiner Fehler, Schwaechen und Unvollkommenheiten seufze ich mit der Dichterin:
"Nicht Triumphe, wie ich einst sie traeumte,
Ruhe nur verlangt mein muedes Herz,
Friede nur nach so viel Todeswunden,
Jesu Trost fuer meine letzten Stunden
Und ein off'nes Pfoertchen himmelwaerts."