Aus:

Burkhard Schroeder:

Unter Maenner – Brueder, Kumpel, Kameraden,

Hamburg 1988, S. 65 - 84

 

Unter Aposteln - Neuapostolische Kirche

In schwarzem Anzug

"Einer Frau gestatte ich nicht, dass sie lehre, auch nicht, dass sie sich ueber den Mann erhebe, sondern sie sei stille." (Paulus) (1)

"Wir sind kein Geheimbund!" verraet der freundliche Herr der "Neuapostolischen Kirche" am Telefon. "Aber wir haben noch nie einem Journalisten ueber uns Auskunft gegeben und werden das auch in Zukunft nicht tun. Auf Wiederhoeren."

"Klack" macht es, und ich stehe etwas dumm da. Dabei hatte ich nur ganz harmlos um einen Gespraechstermin gebeten, um mich ueber Mitgliederzahlen und Organisationsform der drittgroessten Kirche Deutschlands aufklaeren zu lassen.

Insgeheim hoffte ich - bei entsprechender Aufgeschlossenheit - die Geschlechterthematik und andere theologische Feinheiten diskutieren zu koennen. Ich plante sogar zu fragen, warum die neuapostolischen Prediger wie ihre freimaurerischen und evangelischen Maennergruppen - Brueder unter sich bleiben wollen.

Ich werde neugierig, zumal meine Recherchen in gewoehnlich ueber diese Dinge gut unterrichteten Kreisen schnell ins Stocken geraten. Niemand weiss Genaues ueber diese Religionsgemeinschaft, die immerhin weltweit ueber vier Millionen Mitglieder haben soll. Selbst der fuer Sekten zustaendige evangelische Pfarrer zuckt etwas resigniert mit den Achseln. "Die sind schlimmer als Jehovas Zeugen!" winkt ein Herr aus dem Vorstand der "Arbeitsgemeinschaft der Kirchen und Religionsge-

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meinschaften" ab. "Bei uns arbeiten alle mit, Juden, Christen, Mohammedaner, nur die nicht. Spioniert hat bei denen noch niemand, sonst gaebe es entsprechende Veroeffentlichungen." Ausser wenigen, meist allgemein gehaltenen Artikeln und Zeitschriften finde ich rein gar nichts. (2) Mehr Glueck habe ich mit Mundpropaganda. Eine Frau ruft mich an, fragt schuechtern, ob ich derjenige sei, der sich fuer die Neuapostolische Kirche interessiere. In Hessen, so eroeffnet mir die Dame, die ihren Namen (um Gottes willen) nicht genannt haben will, streite sich ein hoher Funktionaer, einer der "Apostel" mit den Kirchenoberen. Dieser "Apostel" gruende soeben eine neue Sekte mit Namen "Knaeblein". Eine komische Bezeichnung, wundere ich mich. Sie habe das so gehoert, meint die Informantin.

Alle neuapostolischen Amtstraeger sind Maenner, vom Tuersteher, meistens einem "Diakon", der die Gemeindemitglieder identifiziert und sie begruesst, bis zum hoechsten Prediger, dem - so die kircheninterne Sprachregelung - "Stammapostel". Dazwischen gibt es, wie bei der Feuerwehr oder beim Militaer, feine und feinste Abstufungen. Zwischen einem "Evangelisten" und einem "Bezirksevangelisten" klaffen Abgruende, und ein "Unterdiakon" traegt bei weitem nicht so schwer an der Buerde der geistlichen Verantwortung wie ein "Diakon". "Priester" vollziehen den normalen christlichen Initiationsritus, die Taufe, und predigen vor mehr oder minder ergriffenen Gemeinden. Den "Aposteln", die ihr Gehalt von der Kirche beziehen, sind die hoeheren Einweihungsrituale vorbehalten. Dazu gehoeren eine Art Wiedertaufe, unverzichtbar fuer messianisch durchwehte Sekten, genannt "Versiegelung", und die "Aussonderung der Brueder" zu tieferen und hoeheren Weihen, der Aufnahme in den Maennerbund.

Gerangel um Ruhm und Ehre, um geistige, geistliche und nicht zuletzt finanzielle Macht gab es in der gut hundertjaehrigen Kirchengeschichte haeufig. Fuer eine Religionsgemeinschaft dieses Alters und dieser Groessenordnung duerfte die Neuapostolische Kirche sogar den Rekord an Abspaltungen halten. (3) Freunde, die jemanden kennen, der jemanden kennt, empfehlen mich einer glaeubigen neuapostolischen Familie in Wiesbaden. Dort sei das Zentrum der Revolte, sagt man mir, und meine Gespraechspartner verlangen ausnahmslos: "Nennen sie nur meinen Namen nicht!"

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Das kann ja heiter werden. Sonntag frueh um acht Uhr - eine fuer mich recht unchristliche Zeit - sitze ich schon am Fruehstueckstisch und falte schlaftrunken die Haende zum Tischgebet. In diesem Zustand bin ich dankbar, dass ich als frommer Beter die Augen schliessen soll und muss. Der Herr des Hauses, ein quirliger, kleiner Mann mit lebhaften Augen, lichtem Haar und schwieligen Arbeiterhaenden, dankt dem HERRN fuer alles, was es so auf der Welt gibt. Frueher war er "Priester", hat aber dieses Laienpredigeramt aufgrund der Ereignisse, die mich interessieren, freiwillig abgegeben.

Man eroeffnet mir, dem "Bruder" aus Berlin zunaechst, das Geruecht von der Sektengruendung sei eine boeswillige Verleumdung, von interessierter Seite in die Welt gesetzt, um ihren frueheren "Apostel" R. zu diskreditieren. Der sei zwar aller kirchlichen Aemter enthoben und mit ihm viele seiner "Mitbrueder", besuche aber treu und brav, wie es sich fuer einen neuapostolischen Glaeubigen zieme, dreimal in der Woche die Gottesdienste. Er beharre jedoch darauf, dass der "himmlische Vater", der bekanntlich im Regimente sitze, dem bruederlichen Intrigenspiel ein Ende bereite.

Warum schwingt der Mann nicht wie Jesus den Kaelberstrick im Tempel, anstatt passiven Widerstand gegen bruederliche Intrigen zu leisten? "Unser "Apostel" ist kein Rebell!" versichert mein Gastgeber. Wie schade, denke ich insgeheim, moechte ihn aber kennenlernen. Meine "Glaubensgeschwister" versprechen, ein Treffen zu arrangieren. Doch vor dieses Treffen hat Gott den Kirchgang gesetzt.

Meine Aufmachung fuer die fromme Expedition besteht aus: schwarzem Anzug, schwarzen Schuhen, dunklen Socken, weissem Hemd, gestreifter Krawatte in harmonischen Farben, an den Kopf gepresster Frisur und einem Gesangbuch, ausgeliehen von einer Frau, die der Gemeinde den Ruecken gekehrt hat. Das Gesangbuch ist ein wichtiges Utensil, um nicht gleich als Fremder aufzufallen, denn saemtliches Schrifttum, das die Neuapostolische Kirche herausgibt, ist nur Mitgliedern zugaenglich und wird, wie das Zentralorgan "Unsere Familie", von den "Bruedern" persoenlich ausgehaendigt.

So ausgeruestet, betrete ich das schmucklose Kirchengebaeude, ueber dessen Eingang ein Kreuz mit aufgehender Sonne haengt, das Symbol der christlichen Kirche unter dem roemischen Kaiser Konstantin.

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An der Tuer schuettelt ein junger Mann, fast wie ich gekleidet, nur mit schwarzem Schlips und ohne Brille, jedem die Hand. "Der Sohn des Bischofs", fluestert mein Begleiter, "der will noch Karriere machen, aber lassen Sie sich nicht einschuechtern." Als ich an der Reihe bin, begruesst er mich mit einem "Herzlich willkommen", hakt aber nach, woher ich denn sei. Ich gebe mich als "Bruder" aus Berlin zu erkennen. Und wo sei meine Legitimation? Das ist fatal. So etwas fuehre ich nie bei mir. Das Problem ist nicht, die Kirche zu betreten, denn das darf mir von einer "Koerperschaft oeffentlichen Rechts " nicht verwehrt werden. Ausnahmen waeren nur die Faelle Hostienraub, Demontage heiliger Gegenstaende und physische Angriffe auf friedliche Beter. Ich will aber die gesamten Riten und Zeremonien miterleben, insbesondere das Abendmahl. Also bleibe ich hartnaeckig und verweise den Bischofssohn auf meine Vergesslichkeit. Weitere "Geschwister" draengen nach und der freundliche Zerberus laesst von mir ab.

Durch ein Spalier von Amtstraegern, zu erkennen am uniformierten Aufzug, die die Eintretenden unauffaellig mustern, gehe ich gemessenen Schrittes durch den Vorraum. Das Gesangbuch krampfhaft festhaltend und verbindlich laechelnd, betrete ich das Allerheiligste. Unter "Bruedern" hoerte ich vorher den Spott, das "Allerheiligste" sei nicht der Kirchenraum, sondern das kleine Nebenzimmer fuer die "Aemter", in dem sich die predigende Maennergruppe vor und nach der Veranstaltung versammelt, in christlicher Weise kurz meditiert und am Schluss das eingegangene Geld zaehlt.

Nur knapp hundert Glaeubige verharren regungslos im Saal, der mindestens 8oo Personen Platz bietet. Das ist ungewoehnlich, denn die Neuapostolische Kirche ist dafuer bekannt, dass fast alle Mitglieder, die "Brueder" sogar ausnahmslos, regelmaessig die religioesen Termine wahrnehmen.

Eine Orgel dominiert die Wand hinter dem wuchtigen und ausladenden Altar. Blumen erfreuen auch die Herzen der Unglaeubigen, und in den blitzenden Kelchen duerften sich Lebensmittel zur Staerkung der Gemeinde befinden. Eine Empore ueberspannt das Kirchenschiff in schwungvollem Bogen, aber oben sitzt niemand.

Das sei frueher nicht so gewesen, wird mir zugefluestert. Die Kirche waere zum Bersten voll, wenn nicht der "Apostel" des Amtes enthoben

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worden waere. Selbst der Chor, der sich jetzt in den vorderen Bankreihen fast verliert, habe ueber 300 Saenger umfasst.

Auf ein von mir nicht bemerktes Kommando erhebt sich der Chor und stimmt ein vorbereitetes Liedchen an. Wie fuer mich bestellt singen die Maenner: "Mach mein Wesen sanft und milde, das noch oft so rauh und hart!", und die Frauen pflichten dem mit erheblichem Tremolo musikalisch bei.

Ich sitze in einer der hintersten Reihen. Ringsum aeltere Maenner in dunkelkarierten bis tiefschwarzen Anzuegen, alle ordentlich frisiert, (Nacken sind frei und sauber, nirgendwo ein Bartschatten, keiner modische Extravaganzen. Mein Informant und Nachbar stoesst mich an: "Das sind alles "Brueder", die ihrer Aemter enthoben wurden. Ueber neunzig hatten wir, jetzt sind noch knapp dreissig aktiv." Ich bin also umgeben von Ausgestossenen und Rebellen, was ich gut und aufregend finde, nur sehen die ueberhaupt nicht so aus.

Der Stein des Anstosses fuer die Kirchenleitung betet gerade am linken Ende der Bank vor sich hin: serioese Brille mit schmalem Goldrand, hohe Stirn, leicht gewellte, streng nach hinten gekaemmte Haare - kein eifernder Patriarch mit flammendem Prophetenblick und Rauschebart, wie ich urspruenglich vermutete. Das ist der geschasste "Apostel" R.

Die Gemeinde erhebt sich nun und singt, waehrend drei "Brueder" im Herrn durch ihre Mitte zur Kultstaette schreiten, aus Leibeskraeften: "An des Apostels Hand eil' ich zur Himmelspfort'."

Knaeblein, Sonnenweib und Oedipus

Koerpersprache und Mimik des neuapostolischen Predigers haben fuer mich so ein aufwuehlendes Charisma wie das eines Sparkassen-Filialleiters. Dennoch horche ich auf. Natuerlich erfahren wir "Brueder" nichts ueber Politik, Feminismus, Fussball oder andere Themen, die die Herzen der Maenner bewegen. Der fromme Redner hinter dem Holzaltar entwickelt einen Mythos, der den bruederlichen Maennerbund psychologisch festigen soll. Er stammt aus der "Offenbarung" des Johannes, dem apokalyptischen Schlussakkord des neuen Testaments.

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Vor unseren geistigen Augen erscheint eine Frau, das biblische "Sonnenweib", versehen mit astrologischen Querverweisen (Sonne Mond und Sterne), die in den Wehen liegt. Vor ihr tobt ein roter Drache, der wutschnaubend schon einen Teil der Sterne mit seinem Schweif vom Himmel gefegt hat. Das Untier gibt wie jeder Drache unmissverstaendlich zu verstehen, dass es das neugeborene Knaeblein fressen will. Das Kind solle, so der Apokalyptiker Johannes und sein neuapostolischer Interpret, "die Voelker weiden mit eisernem Stab. Das ist keine sexuelle Anspielung, sondern ein Hinweis auf die kuenftige Herrschaft eines starken Fuehrers, nach dem sich ratlose und sozial schwaechere Maenner in Deutschland manchmal sehnen. Gott greift doch im letzten Moment ein und holt das veraengstigte Knaeblein zu sich in himmlische Regionen, die fuer Drachen im allgemeinen tabu sind. Die Dame schickt er verstaendlicherweise in die Wueste. Sonst wuerde jeder Glaeubige verwirrt annehmen, sie sei seine, Gottes Ehefrau. Die christliche Mythologie sieht allerdings bis heute trotz eines "Gottessohnes" keine Frau Gottes vor.

Der so abgewimmelte Drache versucht das "Sonnenweib" mit einem Schwall Wasser, den er ausspeit, zu ertraenken, was ihm aber in der wuestenhaft sandigen Umgebung von vorneherein misslingt, wendet sich frustriert ab und anderen unschuldigen Opfern zu (4)

Solche Dreiecksgeschichten zwischen den Geschlechtern kennen wir aus anderen Maennerbuenden. Die katholischen Brueder und Glaeubigen verehren Maria, eine Frau ohne sexuell aktiven Mann, die aus durchsichtigen Gruenden vom uebergeordneten Geistvater schwanger geworden ist. Das Kind, natuerlich ein Sohn, muss sich opfern und kreuzigen lassen, um mit dem Vater ein intimes Verhaeltnis zu erreichen und ihn auf die Menschheit versoehnlich zu stimmen.

Der Held der freimaurerischen Mythen, Hiram, ist "Sohn einer Witwe", einer abgeschwaechten Form der Jungfrau. Er stirbt symbolisch im Ritual des Meistergrades und kann nur durch eine "Bruderkette" wiederbelebt werden.

Der geheime Wunsch, so die psychoanalytische Interpretation, ist auch hier Vater des Gedankens und des Mythos. Der Sohn spuere Konkurrenz des Vaters und moechte die Mutter allein besitzen. Der Wunsch nehme jedoch keine konkreten sexuellen Formen an, obwohl

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er so gemeint sei, denn das sei verboten (Inzesttabu). Muetter erscheinen in Mythen daher als geschlechtslos, als "Witwe" oder Jungfrau.

Unser mythologischer Held, das Knaeblein, und seine Mutter, das "Sonnenweib", schweben in Lebensgefahr. Der Mythos fuehrt vor, wie man als zukuenftiger Mann allen derartigen Bedrohungen, insbesondere der Sexualitaet (der Drache steht in allen Bildern dieser Art fuer das bedrohliche Weibliche) und den uebermaechtigen Muettern entrinnen kann. Die Frau muss sich verdraengen lassen, Wasser, Schleim und Blut des Drachen werden ausgetrocknet, und der Knabe initiiert mit dem starken Vater einen schuetzenden Maennerbund.

Dieses Modell eines Beziehungsgeflechts zwischen Vater, Mutter und Sohn durchzieht die Predigten der neuapostolischen Brueder. Ihr Interpretation nach symbolisiere das "Sonnenweib" die gesamte Kirche, der Drache den Teufel und das Boese, das Knaeblein den besonders frommen Kern der neuapostolischen Glaeubigen, natuerlich in der Mehrzahl "Brueder" hoeherer Grade. Diese, so hoffen sie jedenfalls, wuerden vor dem bald zu erwartenden grossen Knall gerettet. Anschliessend, wenn das goettliche Imperium gegen das Boese zurueckschlage, duerften sie die gesamte Menschheit in schoenster Bescheidenheit auf Dauer beherrschen.

Mythen und bildhafte Vergleiche wie unsere seltsame Familie mit dem Drachen stammen aus Zeiten, in denen die alten Muttergottheit der Menschheit noch nicht vollstaendig vom Patriarchat verdraengt worden waren. Selbstverstaendlich spielen maennliche Helden hier die Hauptrolle, denn der Kampf gegen maechtige Frauen ist keine einfache, dafuer um so ehrenvollere Aufgabe.

Mythen kanalisieren wie ihre volkstuemliche Variante, die Maerchen, kollektive Aengste, geben in verschluesselter Form Verhaltensmuster vor, wie man mit der inneren Furcht umgehen kann. Unsere "Brueder", die sich in staendiger Wiederholung mit Drachen, Knaeblein und Sonnenweibern beschaeftigen, wollen keine Informationen ueber den Geschlechterkampf vermitteln. Sie erzeugen vielmehr bei der lauschenden Gemeinde mit Hilfe dieser Denkschablonen bestimmte Gefuehle. Die Metaphern, aus denen im Wesentlichen die Glaubenslehre nicht nur der neuapostolischen "Brueder" besteht, wirken wie Kitsch. Nicht psychologische Tiefe ist fuer die Zuhoerer interessant, sondern das

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fertige und bekannte Klischee. Das Ergebnis einer Predigt steht vorab schon fest: Die Welt ist noch so, wie wir sie glauben zu kennen, demnach nicht weiter beunruhigend. Der beruehmte roehrende Hirsch auf dem Wandteppich, die Schwarzwaldklinik und das "Sonnenweib" funktionieren nach dem gleichen Prinzip. Gewaehrleistet ist, dass du bestimmte Signale eines erwuenschter Gefuehlszustand abgerufen wer kann.

Der beruehmteste Mythos (5) ueber das Verhaeltnis zwischen Frauen und Maennern, zwischen Kindern und Eltern ist die Geschichte des Oedipus. Dieser legendaere Held, wie ihn die Tragoedien des Sophokles ueberliefern, ermordet, ohne davon zu wissen, seinen Vater und heiratet seine Mutter Jokaste. Das tut man nicht. Als alles ans Licht kommt, sticht sich Oedipus deshalb zerknirscht die Augen aus. Der Chor der heutigen Psychoanalytiker ruft im Hintergrund mit erhobenem Zeigefinger: Symbolische Kastration als Strafe fuer verbotene Wuensche!

Auch der antike Oedipus hatte, wie unser biblisches Knaeblein, Probleme mit urtuemlichem Getier. Seine Mutter Jokaste war nach Aussage mythologischer Gewaehrsmaenner Priesterin der Sphinx, dem Produkt einer inzestuoesen Verbindung aus einer Schlangengoettin und einem Hoellenhund. Je nach ueberlieferter Fassung und je nachdem, welches Frauenbild die Tradition gerade bevorzugte, stehen mehr Mutter (Sonnenweib) oder die Sphinx (Drache) im Vordergrund.

Theben, die Heimatstadt des Oedipus, musste der Sphinx periodisch einen jungen Menschen zum Fruehstueck anliefern. Die Maenner der Stadt erkoren Oedipus sofort zu ihrem Helden, als der dem schaedlichen Treiben des Untieres Einhalt gebot und es toetete.

Wer identifiziert sich mit wem? "Der Heros ist gegenueber dem Gott eine in den gesellschaftlichen Zusammenhang (hier: die Kleinfamilie, B.S.) eingebettete Figur, so dass die Identifikation mit ihm zu einer sozialen Beziehung wird" (6), schreibt Sigrun Anselm, eine feministische Psychologin, in ihrem spannenden Buch "Angst und Solidaritaet".

Wir wollen niemandem zu nahe treten und stellen uns daher ein nur fiktives Knaeblein vor. Wir nennen es nicht Siegfried, sondern schlicht K. Knaeblein K., ein spaeterer "Bruder" und Mitglied eines Maennerbundes, beschaeftigt sich in allerfruehester Jugend mit dem einzig greifbaren Liebesobjekt, der Mutter und vornehmlich mit deren Brust. Der Vater

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hat jedoch aehnliche Interessen. Dem Knaeblein entgeht das nicht. Es fuehlt sich (irgendwie) schlecht, weil es die schmutzigen Tricks des spaeteren Konkurrenzkampfes unter Maennern noch nicht beherrscht. Es faellt kopfueber in den Oedipus-Komplex. Wegen des allseits verbreiteten Inzest-Tabus darf es nicht mit der Mutter, also werden die Wuensche verdraengt und die Mutter entsexualisiert.

Frauen sind, wie so haeufig, in einer anderen Situation. Da nur wenige Maenner die Zeit aufbringen, sich so intensiv wie die Muetter ihren Kindern zu widmen, warten Maedchen zeitlebens auf den Maerchenprinzen. Erschwerend fuer das spaetere Liebesleben kommt hinzu, dass Muetter sich dem gleichen Geschlecht gegenueber ambivalent verhalten. Maedchen halten sie fuer weniger liebenswert. Weibliche Kinder werden von ihren Muettern in der Regel frueher abgestillt und viel eher als Jungen den bei uns ueblichen Reinlichkeitsdressuren unterworfen.

Das Knaeblein K. muss sich, um spaeter einmal als eigenstaendiger junger Mann denken und fuehlen zu koennen, von der Mutter abgrenzen. Je mehr die Mutter ihre eigenen, unerfuellten Wuensche auf ihren Sohn projiziert, je mehr sie ihm die Abnabelung erschwert, um so mehr muss sich K. wehren. Er beginnt mit Trotz und Aggressivitaet und faehrt in spaeteren Jahren fort mit psychosomatischen Symptomen und Impotenz bei starken Frauen. In jeder weiblichen Person sieht Knaeblein die verschlingende, uebermaechtige Mutter. K. wird aus Angst tiefere Gefuehlsbindungen zu Frauen vermeiden. "Deshalb fuehlen sich Maenner unter Maennern am wohlsten, am Tresen, im Sportverein, in der Politik" (7)

"Bruder" K., soeben erwachsen, identifiziert sich nur zu gern mit dem Helden. Er fuehlt sich in die soziale Beziehung ein, die ihm das biblische Knaeblein vorlebt. Er versucht, seine Angst vor der bedrohlichen Frau zu bewaeltigen, indem er sie in die mythologische Wueste schickt. Die Geschlechterspannung hebt er im Maennerbund mit dem uebermaechtigen Geistvater auf. Dieser Bund fordert zwar Abhaengigkeit und Gehorsam gegen alles, was von oben kommt, verheisst zugleich zukuenftige Gleichheit. "Ihr werdet IHM gleich sein!" ist christliche Devise.

Solange K. seine Identitaet aus unbewusster Angst nicht in einer Beziehung zu einer Frau finden kann, wird er sich irgendeinem Vater oder

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einem Ersatz, etwa in religioeser Form, unterwerfen, den er zugleich wegen des verdraengten Konkurrenzkampfes um die Mutter, zu beseitigen trachtet. Sigrun Anselm leitet die maennliche Rivalitaet aus dieser psychologischen Spannung ab. Der Junge, unser fiktives Knaeblein, bewaeltige die innere Bedrohung der geschlechtlichen Identitaet nicht. Er stehe daher unter dem staendigen Zwang, sich mit anderen Maennern messen und vergleichen zu muessen, um sich zu vergewissern, dass ihm niemand ans psychische Leder will. "So hat das Konkurrenzprinzip seinen Ausgang in der Vater–Sohn-Beziehung, foerdert jedoch durch Verdraengung des Ausgangspunktes ein allseitiges Konkurrieren, dem alles subsumiert wird, was unbewusst an dessen Ausgangspunkt gemahnt. " (8)

Die bruederliche "Horde" setzt an die Stelle des Liebesobjektes "Frau" die Liebe zum Fuehrer der Maennergruppe, denn Aggression gegen diesen Vater-Ersatz zoegen ebensolche Schuldgefuehle nach sich wie sexuelle Wuensche zur Mutter.

Sobald aber die Frauen ganz real und fleischlich ins Spiel kommen und ein Mann sogar in der Lage ist, sie zu lieben, droht der Maennerbund zu scheitern. Daher ist das Zoelibat eine konsequente und fuer laengerfristig angelegte Maennerprojekte kluge Einrichtung. Moderne Maennergruppen loesen sich auch deshalb so zeitig auf, weil niemand das so gesehen praktische Zoelibat einhalten, geschweige denn kontrollieren will und kann.

Schuld und Suehne

Die Predigt steuert nun, das spueren alle, auf den Hoehepunkt zu, das Opferritual. Ungeachtet der Tageszeit nennen Christen diese Kulthandlung "Abendmahl". Vorab huldigt die Gemeinde dem hoeheren Geistwesen "Unser Vater". Dessen ausfuehrendes Organ, der charismatische Filialleiter, versichert nachdruecklich und nicht ohne innere Bewegung in der Stimme, der himmlische Vorsitzende des Maennerbundes habe unser aller Verfehlungen gegen Sitte und Moral "vergeben und vergessen", also, wie Psychoanalytiker diesen Vorgang nennen, verdraengt.

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Maennliche Kulthandlungen wie Fahnenweihen (ein ehemals ritueller Tanz um eine Stange) und das Abendmahl (Voelkerkundler behaupten, es handele sich um einen gemeinsamen Verzehr des vaeterlichen Totemtieres) scheiden die profane von der heiligen Welt. Urspruenglich waren das Opfer und das anschliessende Mahl ein Menschenopfer. Spaeter weihte man den Goettern, die versoehnlich gestimmt werden mussten, Tiere oder Fruechte. Wird die gesellschaftliche Produktion komplexer und der Tauschverkehr eingefuehrt, nimmt man fuer das Opfertier abstrakte Zeichen. So zeigen die ersten Muenzen Tiersymbole, die auf die Totemtiere der Ahnen zurueckgehen. Einige Anhaenger von 0pferkulten im antiken Griechenland ahnten die kannibalistischen Urspruenge und verdraengten sie, indem sie jeglichen Fleischgenuss ablehnten. Pythagoras kommentierte das mit den Worten: "Die ungluecklichen Menschen wissen nicht, dass sie ihre Vaeter, Muetter und Soehne schlachten und das eigene Fleisch hinunterschlingen." (9)

Das Opfer ist immer eine abenteuerliche und gefaehrliche Angelegenheit, denn die Aengste, die gebannt werden sollen, lauern im psychischen Hintergrund. Die Vermittlung der unversoehnten Gegensaetze funktioniert nicht wirklich, nur an den heiligen Orten und zu b stimmten Zeiten. Deshalb muss man darauf achten, das Ritual periodisch zu wiederholen und genau die aeusseren Bedingungen einzuhalten, die den Zauber ermoeglichen. Ein falsches Wort, eine falsche Geste und Ernst und Heiligkeit der Stunde sind dahin.

Ruft der Prediger: "Himmlischer Vater!" ueberfaellt die Brueder ein frommes Kraeuseln der Rueckenbehaarung. Betet er hingegen: "Verehrtes hoeheres Geistweisen!" vermutet die Gemeinde, obwohl es auf dasselbe hinausliefe, ein boeser Daemon habe ihn befallen.

Haeufig werden bei Opferhandlungen, symbolisch fuer den eigenen seelischen Zustand, Gegenstaende von einer Form in die andere ueberfuehrt. Christliche Maenner essen "Fleisch und Blut" des Gottes. Die freimaurerischen Brueder verbrennen beim alljaehrlichen "Rosenfest der klassischen "Danksagung" an die Frauen" - drei Rosen im ewig Feuer. Im Mittelalter warf die katholische Kirche Frauen nicht symbolisch, sondern ganz real in die Flammen.

Die Versoehnung, das Ziel der Opferhandlung, muss scheitern, wenn die Angst, das ausloesende Moment, nicht mehr im Bewusstsein praesent

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ist. Man weiss es nicht, aber man tut es dennoch. Nur in den alten Mythen spukt der eigentliche Sinn der Veranstaltung noch herum. Furien, weibliche Rachegoettinnen, verfolgen den Helden, der sich an der Muttergottheit vergriffen hat. Den Juenglingen, die in altgriechischer Zeit das Geschlecht der grossen Goettin gesehen hatten, wurde eine Fibel (eine Art Spange) ins Herz gestossen.

Das gilt auch fuer den legendaeren Oedipus. Er ist "... wie alle Heroen ... Begruender des Patricharchats, der Sieg, den er erringt, ist Abschaffung des Matriarchats; die Angst, die er ueberwindet, ist die der Rache der Frauen. Ob Sphinx oder Medusa (oder biblischer Drache, B.S.), als grauenerregende Frauen sind sie immer schon Projektionen der Angst vor der Rache der Unterdrueckten." (10)

Die christliche Variante verschluesselt die weibliche Symbolik des Opfers. Der "Bruder" muss als Mitglied eines religioesen Maennerbundes das Boese, das schlechte Gewissen in seinem Inneren, mit dem Willen des uebermaechtigen Geistvaters versoehnen. Im Opfer der eigenen Triebwuensche werde die Beziehung zur Frau geopfert, meint Sigrun Anselm fast bedauernd. (11) Der Vater gebe seine Selbstkastration an den Sohn weiter, der Zusammenhalt beider beruhe auf Verzicht. Schuldgefuehl des Sohnes steckt das ewige Misslingen dieser Solidaritaet, die im immer erneuten Konkurrieren wieder zunichte wird."

Auch die heilige Handlung, der ich beiwohne, droht beinahe zu scheitern. Ihr Ernst wird durch eine kleine Rangelei unter den "Bruedern" gestoert. Die Gemeinde, mich eingeschlossen, eilt Reihe fuer Reihe nach vom zum Altar, um Brot und Wein, als Hostie verteilt zu verzehren. Einer der glaeubigen Maenner drei Bankreihen vor mir will sich soeben in die Oblaten-Schlange einreihen, da wieselt ein schwarzgekleideter "Amtsbruder" von hinten zu ihm, fasst ihn an den Arm drueckt ihn in die Bank zurueck.

Ich blicke meinen Nachbarn fragend an. "Der ist nicht wuerdig, am Opfer teilzunehmen", fluestert mein Informant.

Wird einem Mann der religioese Versoehnungsversuch mit der Geschlechterspannung - statt der Solidaritaet mit den Frauen der gegen sie gerichtete Bund mit dem Vater - verweigert, hat er keine rituelle Moeglichkeit mehr, mit seinen Aengsten vor dem anderen Geschlecht umzugehen. Der Ausschluss vom "Abendmahl" ist daher eine schlimme

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Strafe. Der zurueckgewiesene "Bruder" wischt sich, wie ich heimlich beobachte, die Traenen aus den Augen.

Ueber die Wuerdigkeit, am Ritus teilzuhaben, klaert ein Rundschreiben der neuapostolischen Kirchenleitung an die "herzlich geliebten Brueder" auf. Darin heisst es zu den interessanten Themen "Konkubinat und Homosexualitaet":

"Den Bruedern und Schwestern, die in den genannten Gefaengnissen sind, soll man mit Freundschaft und Achtung begegnen. Man soll sich ihrem Problem besonders annehmen und ihnen behilflich sein, ihre Veranlagung zu ueberwinden oder den nicht gottgewollten "Ehestand" zu aendern. Regelmaessige Betreuung hilft ihnen, den Weg zu finden worauf der Herr sein Wohlgefallen legen kann. Steter Tropfen hoehlt den Stein... Auf Grund gemachter Erfahrungen wird es nur wenige Unverbesserliche geben, welche vorerst in ihren Zustaenden beharren." (12)

Eine der "Schwestern", die, wie ich spaeter erfahre, zu den Sympathisantinnen des rebellischen "Apostels" R. gehoert, will sich mit dem weinenden "Bruder" nicht abfinden. Sie bricht die ihr zugeteilte Oblate in zwei Stuecke und teilt sie geschwisterlich mit dem angeblich unwuerdigen Herrn. Niemand wagt es, sie daran zu hindern.

Die Veranstaltung ebbt mit gesungenem "Amen" der Gemeinde und "Halleluja" des Chores ab. Ich muss zu meinem Vergnuegen nicht laenger in einem den Rueckenschmerz foerdernden Zustand verharren und verlasse die Kirche.

Ein Verraeter

"Ihr aber, liebe Brueder, seid zur Freiheit berufen. Wenn ihr euch aber untereinander beisset und fresset, so sehet zu, dass ihr nicht voneinander verzehret werdet." (13)

Das erste Verhaltensgebot fuer die neuapostolischen "Brueder" ist der Gehorsam gegen die Vorgesetzten der Maennergruppe. Damit liegt die Kirche ganz im politischen Trend. Das spuert auch der Bundeskanzler.

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Er mag sie. Drei hohe Funktionaere der Sekte, die "Brueder" Engelauf, Brinkmann und Kruse, ueberreichten Herrn Kohl im Juli 1986 eine Dokumentation ueber ihren Maennerbund und die untergeordneten Schwestern. Der Kanzler revanchierte sich mit einem Grusswort die Glaeubigen:

"Meines Erachtens ist es das Wichtigste, zu erkennen, dass alle Arbeiten des Diesseits nur bis zum vorletzten Schritt gehen. Das Wichtigste ist die Konzentration auf den letzten Schritt, der uns vom Diesseits ins Jenseits fuehrt." (14)

Damit meint Herr Kohl nicht die US-amerikanischen und russischen Raketen, die den Schritt vom Diesseits ins Jenseits beschleunigen koennten. Er freut sich vielmehr ueber die unangetastete Autoritaet des Mannes, die sich bei den jungen Glaeubigen in Leibeszucht, Gehorsam gegen die Obrigkeit und voelligem Desinteresse an politischen und sozialen Problemen aeussert.

Das neuapostolische Zentralorgan "Unsere Familie" schreibt: "Der Jugend bescheinigte er, sie suche Ideale, bei denen sich Gedanke und Ausfuehrung, Theorie und Praxis, Person und Tat jeweils entsprechen. Beim Betrachten der Bilder von den Jugendzusammenkuenften des Apostelbezirk Nordrhein-Westfalen zeigte sich Dr. Kohl beeindruckt von der Disziplin und Ordnung." (15)

So geordnet und diszipliniert, wie es scheint, geht es unter den neuapostolischen Bruedern jedoch nicht zu. Anlaesse fuer Streit und Zank sind, wie in allen Maennerbuenden, Finanzen und Frauen.

Jede staatliche Autoritaet, gleich ob ein faschistisches Terrorregime oder eine demokratisch gewaehlte Regierung (16), ist, so die Lehre der Sektenoberen, vom hoeheren Geistwesen, dem "himmlischen Vater gebilligt und muss unterstuetzt werden.

Die Glaeubigen schwoeren, die "Obrigkeit" sei "Gottes Dienerin" und ihnen deshalb "zugute". (17)

Das wirkt sich fuer die Kirchenleitung finanziell ertragreich aus, fuer das Portemonnaie der "Brueder" und "Schwestern" weniger. Die Mitglieder der Neuapostolischen Kirche sollen zehn Prozent ihres monatlichen Einkommens ihrer Sekte zur Verfuegung stellen. Das sogenannte "Opfer" ist zentraler Bestandteil der Predigt und insbesondere fuer "Brueder" Pruefstein des rechten Glaubens.

Jeder der Maenner, der in der Hierarchie weit genug aufgestiegen ist,

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um den direkten Zugriff auf die Kirchenkassen zu haben, verteidigt seinen Teil des Kuchens verbissen. Das geht aber nur, indem er sein Ansehen in der Zentrale durch finanzielle Potenz, das heisst durch missionarische Erfolge, die Kopfzahl der neu geworbenen Glaeubigen hebt.

Seit einigen Jahren, erfahre ich von ehemaligen Mitarbeitern der Kirchenverwaltung, stagnieren oder sinken die Mitgliederzahlen. Die einzige Ausnahme im deutschsprachigen Raum sei der Bezirk Wiesbaden/Hessen gewesen.

Die Kirchenleitung hat, um diesem unerfreulichen finanziellen Trend entgegenzuwirken, die Mission in aussereuropaeischen Laendern intensiviert. Den dortigen Menschen sollen nicht nur das Wort des "himmlischen Vaters" und der neuapostolische, fuer alle Kulturen verbindliche "Bruederanzug" mit schwarzer Krawatte nahegebracht werden, sondern auch die Botschaft von der Kultunfaehigkeit der Frau. Man zitiert die Bibel: "Und der Mann ist nicht geschaffen um des Weibes willen, sondern das Weib um des Mannes willen."(18)

Welcher der "Bezirksapostel" Geld und Maenner zur Mission zugeteilt bekommt, entscheidet allein die Zentrale, die vor einigen Jahren aus den ueblichen Gruenden von Dortmund in die Schweiz uebergesiedelt ist.

Zwei Fraktionen der "Brueder" fielen bei der Werbung um neue Seelen und deren Geldbeutel besonders angenehm auf: die aus Kanada und die aus Hessen.(19) Bruederliche Bosheiten und Querelen bahnten sich schon 1978 an, als der kanadische "Apostel" K. einem seiner Kollegen waehrend einer Maennergruppen-Sitzung der Kirchenleitung in Frankfurt andeutete, falls der naechste "Stammapostel" aus Hessen kaeme, waere sein Lebenswerk dahin. Klartext: der maechtige amerikanische Teil des Missions-Imperiums wuerde sich abspalten.

Mitte der achtziger Jahre erleidet die Hessen-Connection eine Niederlage. Nachfolger des pensionierten "Bezirksapostels" R., der das neuapostolische Hessen und die zugeteilten Laender der "Dritten Welt" zu Glanz und Gloria gefuehrt hatte, wird nicht, wie in der Sektentradition haeufig, sein Sohn, sondern der Karlsruher "Apostel" S., unter Bruedern als strenger Gefolgsmann der Zentrale bekannt.

Gleichzeitig tauchen unter Amtstraegern Geruechte auf, die sie zu ver-

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wirrten Nachfragen in Hessen motivieren. Der "Apostel" R. junior, so erzaehlt man sich, habe uneheliche Kinder in Rumaenien, dem Missionsgebiet des Kanadiers K.; er plane zudem, eine Konkurrenzorganisation mit Namen "Knaeblein" zu gruenden - in Anlehnung an den "Sonnenweib"-Maennermythos. Jeder "Bruder" versteht diese theologische Feinheit: je weniger Glaeubige die Chance haben, als "Knaeblein" dem Boesen errettet zu werden, um so weniger kann man sie endzeitlich befluegeln. Das widerspraeche aber der verstaerkten Missionstaetigkeit. Es werde sogar behauptet, so referieren mir "Brueder" entruestet, R. habe seinen greisen Vater des Hauses verwiesen. Die erbaulichen Traktate, die R. fuer die neuapostolischen Maenner- bzw. "Brueder"-Zeitung "Waechterstimme" verfasst, werden so redigiert, dass sich ploetzlich Abweichungen von der theologischen Generallinie ergeben.

"Mitbrueder" deuten dem beunruhigten R. an, er moege sich ueber seine Verfehlungen in der Schweizer Zentrale informieren.

R. bittet seinen geistlichen Fuehrer, den "Stammapostel" Urwyler schriftlich um einen Liebesbeweis. Der antwortet knapp, ein Gespraech finde "unter keinen Umstaenden" statt. Der so bruederlich Abgeschmetterte beginnt am ideologischen Ueberbau seines Maennerbundes zu zweifeln und legt unter Protest alle Funktionaersaemter nieder, kuendet sogar sein Angestelltenverhaeltnis bei der Kirchenverwaltung. Das zustaendige Arbeitsamt wundert sich: Wie vermittelt man einen arbeitslosen "Apostel"?

Die "Mitbrueder" R.'s jedoch halten ihm die Stange, weil sie ihn lieben. Sie rumoren und ueberschuetten die Kirchenoberen mit Anfragen. Anlaesslich einer feierlichen "Bruederstunde", bei der natuerlich nur Maenner zugelassen sind, fragt das Publikum den Leiter der Kulthandlung, was R. vorgeworfen werde. Die Antwort: "Veruntreuung von Kirchengeldern" und "Weibergeschichten". Die "Brueder" reagieren mit unheiligem Gelaechter, einige Dutzend der frommen Maenner verlassen protestierend den Versammlungssaal.

Alle "Brueder" sollen - das besagt die Anweisung der Sektenfuehrers - den persoenlichen Kontakt zu R. aufgeben. Wer sich weigere, werde sofort gefeuert. Auch die Gesetze der Gruppendynamik verlangen ihr Recht. Als der Gemeinde in B. nach Abschluss der heiligen Handlungen mitgeteilt wird, ihr "Aeltester" und ihre "Priester" seien ab sofort

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aller ihrer Aemter enthoben, beginnen die Glaeubigen, mehrere Hundert an der Zahl, laut zu murren. Der Prediger, offenbar ohne psychologische Erfahrung, fordert die grummelnden "Brueder" und "Schwestern" auf, zum Gesangbuch zu greifen und anzustimmen: "Lasst uns froehlich Lieder singen!" Bei den ersten Toenen der Orgel erhebt sich die gesamte Gemeinde wie ein Mann und verlaesst den Kirchenraum.

Alles laeuft wie bei einer Trennung von Frau und Mann: Die Gefuehle sind noch da, verkehren sich aber ins Gegenteil. "Bruederliche" Liebe wird zu "bruederlichem" Hass. Gegner und Sympathisanten des geschassten R. graben im religioesen Wortschatz und beschimpfen sich gegenseitig als "Pharisaeer", "Heuchler" und "Satansbrut". Der Hoehepunkt maennerbuendischer Abneigung: R. wird vorgeworfen, er sei ein Verraeter. Dafuer gibt es unter Bruedern einen prompt bemuehten, abschreckenden Namen. Jeden Christen schaudert es ob der abgrundtiefen Schlechtigkeit des historischen Vorbildes: Judas Ischariot, der den Herrn an eine konkurrierende Maennergruppe verriet.

Die Traeume der Schwestern

Sonntag abend ist es soweit. Der gewaltige Prediger vor dem Herr gewaehrt mir Audienz. Ich bin neugierig. Wie muss man als Mann sein, damit glaeubige Frauen zu Hunderten mit verzuecktem Blick jedes Wort von den Lippen ablesen? Damit eben so viele Maenner eher den Bruch mit ihrem Weltbild und allen geistlichen Autoritaeten wagen als die Treue zu ihrem Fuehrer abzuschwoeren?

Der "Apostel" R. sieht ganz normal aus, wie ein durchschnittlicher Passant einer durchschnittlich haesslichen Fussgaengerzone einer durchschnittlich langweiligen westdeutschen Kleinstadt. Und doch spuere ich in mir einen unterschwelligen Widerstand. Dieser Mann hat etwas, was mich in seinen Bann zieht und damit meine Abwehrreaktion hervorruft.

Ist es ein herausfordernder Blick? Die Machtprobe, wer den direkte Augenkontakt am laengsten aushaelt? Nein, er sieht jedes Mitglied der glaeubigen Gespraechsrunde (acht an der Zahl, aber nur zwei Maenner, er

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und ich) reihum an, aber gerade nur so kurz, dass die Adressatin der optischen Zuneigung sich nicht entscheiden muss, ob sie die Augen niederschlagen oder trotzig der Herausforderung begegnen soll. Die Integration durch Augenkontakt ist paedagogisch geschickt und besonders angebracht, wenn man sich in einer fremden Maennergruppe beliebt machen will.

Die Koerpersprache ist nicht besonders auffaellig, aber gezielt eingesetzt. Markige Handbewegungen untermalen markige Saetze. Beruft er sich, gegen seine kirchlichen Widersacher, auf den hoeheren Geistvater, liegt eine Hand auf der Bibel, die andere deutet nach oben. Reagieren wir nicht eindeutig genug, verteilt er Auftraege: "Holen Sie mir bitte die xy-Ausgabe des Neuen Testamentes!"

Auch das kenne ich aus meiner Maennergruppe. Erlahmt die Aufmerksamkeit, sollte der psychologisch Erfahrenste (in modernen Maennerbuenden der Alternativszene darf niemand von sich behaupten er sei der Chef) das Geschehen von der verbalen auf eine andere Ebene verlagern: bodywork statt Gespraechstherapie.

Kehrt eine der "Schwestern" mit der angeforderten Bibel (ersatzweise: Pflaumenkuchen) zurueck, wenden sich unsere Blicke ihr zu, erholen sich kurz, kehren aber dann mit erhoehter Aufmerksamkeit zu IHM zurueck, wenn sie ihm den Ball beziehungsweise das Buch zuspielt. Alles, was in der Gruppe geschieht, seien es Worte, Blicke oder Gesten, verweist auf IHN. Das muss erst einmal jemand nachmachen.

Ich werfe ein Stichwort in die Runde: Prophetie. Aller Augen sehen IHN fragend an. Der erhoeht die Spannung vor der biblischen Ausfuehrung: "Bitte reichen Sie mir das Buch dort drueben."

Hinter dem Thema "Prophetie" lauert die Geschlechterfrage, zwar bis zur Unkenntlichkeit vermummt, aber mit einer geheimen Sprengkraft, die den geistigen ueberbau der "bruederlichen" Maennergruppe erschuettern kann.

Religioese Erfahrung ist undenkbar ohne ein entsprechendes Koerperbewusstsein, das von den umworbenen sozialen Schichten definiert wird. In asiatischen Religionen ist die geistige Erleuchtung ohne staendige Meditationsstellung im erigierten Lotussitz genauso undenkbar wie ein Beischlaf der traditionellen Art ohne Erektion. Bhagwan verwandte Geister waeren nicht die Propheten fuer die Frauen der neuen

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Mittelschichten ohne Atemtherapie, vegetarischem Firlefanz und Gummihandschuh-Sex.

Sekten, die sich auf den kleinbuergerlichen religioesen Markt spezialisieren wie die Mormonen, Jehovas Zeugen und die Neuapostolische Kirche, waeren nicht entstanden ohne ekstatische Zuckungen der Mitglieder in der Gruendungsphase. Neue Formen der Koerperpanzerung setzen sich (experimentell) durch, in Zungenreden, Weissagungen, haeufig begleitet von Augenrollen und visionaeren "Traeumen".

Noch zu Anfang des Jahrhunderts wurden die Maenner, die das Wort des Herrn verkuenden sollten, von "Propheten" und "Prophetinnen" "von unten" bestimmt. Eine ehemalige Glaeubige erinnert sich. In den Gottesdiensten sei es sehr lebhaft zugegangen. "Weissagung auf Weissagung ertoente; der Saal zitterte zuweilen unter dem Schuetteln, Stampfen, Zucken und Zittern der "begabten Glieder"." Der Prophet "zottelte und zappelte und wie von einer unsichtbaren Macht vom Stuhl in die Hoehe geschleudert und schrie maechtige Worte in die Versammlung hinein. "War er nicht da, halfen "weissagende" und "visionaere" Mitglieder aus. "Ja, so spricht der Herr!" - "Ich habe dich erwaehlet!" - "Eile und errette dich!" Wenn der "Apostel" merkte, dass den Zuhoerern die Weissagungen wichtiger waren als seine Predigt, sie in ihnen unmittelbar den Herrn zu hoeren glaubten, "donnerte er dazwischen und belehrte uns, dass alle Weissagung vorher durch Apostelamt ginge und die Predigt - Gottes Wort von heute - ueber der (Weissagung) stehe." (20)

Nur durch Prophetie konnten die Frauen, die intuitiven, spontane und ekstatischen Koerpererfahrungen eher zugaenglich waren und noch sind, Einfluss auf die Zusammensetzung der "bruederlichen" Maennergruppe nehmen. Diese Hauptkampflinie um die Macht zwischen den Geschlechtern hat sich bis heute in der Sekte nicht geaendert. (21)

"Wenn mehrere Schwestern zu mir kommen und berichten, sie haetten einen bestimmten Bruder im Traum als Prediger gesehen, ist das fuer mich ein Zeichen Gottes, ihn in dieses Amt einzusetzen!" kommentiert der "Apostel" R. die Macht der Frauen. "Ich kenne viele glaeubige Schwestern, die diese schoene Gabe besitzen."

Der Kirchenleitung missfaellt dieses unberechenbare Element. Beginnen die "Schwestern" und auch einige der "Brueder" zu "traeumen"

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wird manche langfristig geplante Karriere innerhalb der Sektenhierarchie in Frage gestellt. 1985 wurde daher offiziell verkuendet, das "Prophetenamt" sei abgeschafft und in das "Apostelamt" integriert. "Ein grosser Fehler!" belehrt mich mein Gespraechspartner und hat natuerlich gleich einen Rattenschwanz von Bibelstellen zur Hand "Jetzt werden nur noch Maenner genommen, die nach oben buckeln und nach unten treten."

Dieser Mann hat etwas begriffen. Ich wuerde an seiner Stelle nicht anders handeln koennen. Hat man Probleme mit seiner Maennergruppe muss man auf die Unterstuetzung der Frauen - und umgekehrt - zurueck greifen. Wankt die Herrschaft der Maenner, muss sie ihre weltanschauliche Massenbasis durch Integration weiblicher Elemente und Symbole erweitern.

Ich verlasse Wiesbaden. Der schwarze Anzug liegt im Kofferraum, die entsetzlich engen schwarzen Schuhe sind wieder in ihrer Plastiktuete, der Schlips zusammengeknuellt auf der Rueckbank. Die Spann faellt von mir ab, ich rieche meine vertraute Lederjacke. Erschoepft und ausgelaugt, will ich von "Bruedern" vorerst nichts wissen. Bin ich anders als die? Fuehle ich mich besser ohne festgefuegtes Weltbild, ohne vaeterliche oder andere Autoritaeten?

Ich habe das Lenkrad umklammert, kann aber nicht losfahren. Ratlos steige ich wieder aus und vertrete mir die Fuesse am steinigen Ufer des Main. Der "Apostel" wird immer noch in seinem Reihenhaus sitzen, umgeben von hoffenden "Bruedern" und "Schwestern" und auf die Hilfe des Herrn harren.

Zwischen Uferpromenade und Strasse glaenzt eine schwarze Tafel. Ich trete naeher. "Der mitleidige Mensch ist der beste Mensch. Was einen mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter." Gestiftet 1898 vom Tierschutzverein Wiesbaden.

 

 

Anmerkungen (S. 243 – 244):

  1. 1. Timotheus 2, Vers 1
  2. Vgl. die Passagen in K. Hutten (1982), O. Eggenberger (1964), H. D. Reimer (1977) und W. F. Haak (1969)
  3. Eine ausfuehrliche Zusammenstellung aller Abspaltungen bei K. Hutten. In Berlin und Brandenburg existiert in 28 Gemeinden das "Apostelamt Jesu Christi" das sich aus einem Schisma Anfang des Jahrhunderts entwickelt hat mit ca. 2000 Mitgliedern. In den achtziger Jahren versucht der "Apostel" Kuhlen, die diversen Gruppen zu einer "Vereinigung Apostolischer Christen" zusammenzuschliessen, was zum Teil gelang.
  4. Vgl. Offenbarung des Johannes, 12 Kapitel
  5. Der Mythos sieht den Menschen als Spielball der Goetter; in der griechischen Tragoedie sind sie handelnde Subjekte. Auf diesen Unterschied wird hier nicht eingegangen.
  6. S. Anselm (1985), S. 118
  7. H.-M. Lohmann: Schatten der Mutter; eine Rezension von Ch. Olivier (1974) in der ZEIT vom 10.7.1987, S. 39
  8. S. Anselm, S. 27
  9. Vgl. H. Kurnitzky (1974), S. 24ff
  10. ebd., S. 119
  11. ebd., S. 123
  12. Vom 17.4. 1986
  13. Galater 5, Vers 13/15
  14. "Unsere Familie" vom 20.10.86. Es folgt: "Eine Einladung zum naechsten Jugendtag am 12. Juli 1987 in der Dortmunder Westfalenhalle schlug Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl nicht aus." Das Bundeskanzleramt schrieb mir auf Anfrage am 9.3.1987: "Im uebrigen liegt dem Bundeskanzler bisher keine schriftliche Einladung zum "Jugendtag" der Neuapostolischen Kirche ... vor, so dass die Frage einer Teilnahme nicht akut ist."
  15. "Unsere Familie", ebd.
  16. Die von K. Hutten beschriebenen Ereignisse werden in der kircheninternen Geschichtsschreibung nicht erwaehnt und sind selbst den hoeheren Funktionaeren nicht bekannt. "In einem Rundschreiben an die Amtstraeger vom 25. April 1933 empfahl Bischoff (der damalige ´Stammapostel´, B.S.), bei Eintrittsgesuchen von Mitgliedern aufgeloester staatsfeindlicher und freidenkerischer Organisationen in Zweifelsfaellen ´die Personalien solcher Personen der zustaendigen Ortsgruppe der NSDAP zur Nachpruefung vorzulegen´ und ihre Aufnahme erst nach dem Vorliegen einer Unbedenklichkeitsbescheinigung der NSDAP zu vollziehen. Die `Waechterstimme aus Zion` ´arisierte´ er Anfang 1934 durch Streichung des ´aus Zion´. Im ´Lehrbuch´, Ausgabe 1938 wurde ... festgestellt, dass ´dem Aufnahmegesuch nicht entsprochen werden kann, wenn der Aufzunehmende sich im Widerspruch zur Staatsfuehrung befindet, die der Neuapostolischen Kirche die Ausfuehrung ihrer seelsorerischen Taetigkeit gestattet´. 1952 wurde dieser Passus wieder getilgt." (S. 477)
  17. Im 10. "Glaubensartikel"
  18. 1. Korinther 11, Vers 9
  19. Zum Missionsgebiet der kanadischen Fraktion gehoeren unter anderem: Burma, Bolivien, Grossbritannien, Indien, Mexico, Pakistan, Papua–Neuguinea, Zaire und Rumaenien. Zum Bezirk Wiesbaden, jetzt in Hessen umbenannt, gehoeren fast alle Staaten des Vorderen Orients, z.B. Iran, Irak, Israel, zudem ganz Nord- und Westafrika.
  20. Zit. n. K. Hutten, S. 473
  21. Das Prophetenamt wird in unregelmaessigen Abstaenden offiziell abgeschafft, zuerst 1905 vom damaligen "Stammapostel" Krebs.

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