Brief (20.9.1996) von Erwin Meier-Widmer an Stammapostel Fehr
Lieber Richard,
fuer Deinen freundlichen Brief vom 18.9.1996 danke ich Dir bestens. Sehr gerne kaeme
ich mit Dir zu einem Gespraech zusammen, allerdings nur unter vier Augen, aber leider
kann ich im Moment aus Gesundheitsgruenden nicht; ich bin frisch operiert und warte
bereits auf den naechsten Spitaltermin (ich bekommen ein kuenstliches Kniegelenk und
lasse Sonja recht herzlich gruessen). Aber ich bin in der Lage zu schreiben; Klartext,
versteht sich.
Mit Bezirksapostel Dessimoz, zu dem mich seit Jahren ein freundschaftliches Verhaelt-
nis verbindet und den ich sehr schaetze, war ich bereits vor laengerer Zeit bei Apostel
Paul Keller zu einem Gespraech, und zwar auf Anregung des Bezirksapostels selbst,
nachdem er erfahren hatte, dass mein Gesuch von 1992 um Versetzung in den vorzeiti-
gen Ruhestand nicht auf gesundheitlichen Gruenden basiert. Nach meiner Ruhesetzung
vom 18.12.1994 kam es dann bei Apostel Keller zum Versuch, die leidigen Vorkomm-
nisse in der Ukraine zu besprechen, aber leider reichte die Zeit nicht aus. Deshalb er-
folgte dieses Fruehjahr die Fortsetzung bei Bischof Sigrist, diesmal ohne Bezirksapostel.
Ueber den Themenkatalog habe ich Dich seinerzeit orientiert, falls Du ihn ueberhaupt
gelesen hast.
Leider musste ich diese letzte Besprechung vorzeitig abbrechen. Es macht wenig Sinn,
zum Beispiel ueber das Alkoholproblem sprechen zu wollen (ein Fachgebiet, ueber das
ich nun wirklich etwas zu sagen haette), wenn der Wille, nur schon genau hinzuhoeren
und sich etwas sagen zu lassen, fehlt, geschweige denn, dass der Wille sichtbar waere,
etwas dagegen zu unternehmen. Wenn man den Wodka sogar in Schutz nimmt und gar
als Medizin hinstellt, die selbst der Bezirksapostel dem neuen Bischof empfohlen habe,
dann bin ich fuer eine solche Diskussion am falschen Ort, nehme mein Hut und gehe
schleunigst wieder heim. Dass ich Bischof Hauri in der Ukraine drei mal betrunken er-
lebt habe, waere ja nicht das schlimmste, wenn es nicht auch andere gesehen haetten.
Das schlimmste Uebel aber scheint mir die negative Kritik und der Richtgeist der voll-
amtlichen Amtstraeger zu sein, in dem Sinn, wie ich ihn bei meinen "Vorangaengern"
erlebt habe. So was war mir bislang fremd. Offen oder eher verdeckt, aber doch er-
kennbar, sind Amtstraeger, Mitarbeiter, bis hin zu den hoechsten Aposteln kritisiert
worden. Am schlimmsten wiegt dabei das Richten, verbunden mit Strafe. Leider ha-
be ich (und andere) solches mit eigenen Augen und Ohren gesehen und gehoert. Ich
bin seither entsetzt und empoert, und so Gott will, werde ich dieses Thema nicht ru-
hen lassen, bis ein Konsens mit Dir gefunden worden ist.
Ein Wort zur Kritik:
1. Es gibt positive und negative Kritik:
Positive Kritik will aufbauen, helfen, verbessern. Gott kommt ohnen dieses Mittel bei
der Veraenderung des suendigen Menschen bis hin zu Jesuaehnlichkeit nicht aus. Die
Bibel ist voll von positiver Kritik.
Im weiteren unterscheidet man die positive Kritik in gute (Lob) und schlechte (Tadel).
2. Die negative Kritik reisst nieder, ist auf Schaedigung und Diskriminierung (und Eigen-
nutz) ausgerichtet. Diese Kritik ist widerlich und muss mindestens in der Neuapostolischen
Kirchenleitung kuenftig vermieden werden, und zwar beispielhaft.
Selbtverstaendlich habe ich mich gefragt, weshalb unsere "Vorangaenger" so oft im ne-
gativen Sinne kritisieren (und richten), selber aber absolut unzugaenglich sind fuer posi-
tive Kritik an ihrer eigenen Person. Ich habe mich lange mit dieser Frage beschaeftigt
und bin zu folgendem Schluss gekommen:
Als Du, lieber Richard, Deine Amtstaetigkeit als Stammapostel aufgenommen hast,
legtest Du Dir selbst in jenem Gottesdienst, also am Altar Gottes, einen Leitsatz zu,
der Dein kuenftiges Handeln bestimmen soll:
 : :  : :  : : "Wenn Du faehrst nach hohem Ziel,
 : :  : :  : : lern' am Steuer ruhig sitzen,
 : :  : :  : : unbekuemmert ob am Kiel,
 : :  : :  : : Lob und Tadel hoch aufspritzen."
Lieber Richard - bei aller Achtung, die Du weltlicher Literatur entgegenbringst - findest
Du dieses Leitmotiv wirklich passend fuer den Nachfolger Petri? Willst Du gar sagen,
der Heilige Geist haette ihn Dir auf die Zunge gelegt?
Ein Steuermann, der sitzt, ja der sogar lernt, ruhig zu sitzen, wird, wenn er es dann
kann oder Ermuedung kommt, bald einmal einschlafen. Es darf (auf einem grossen
Schiff, wie es die Kirche darstellt) keinen ruhig sitzenden Steuermann geben, er muss
stehen und lebhaft alles um ihn herum wahrnehmen!
Wenn Dich das Geschehen am Kiel unbekuemmert laesst, selbst wenn es Lob (gute
Kritik) und Tadel (schlechte Kritik) nur so hagelt, dann solltest Du Dich je laenger je
mehr nicht wundern, wenn das Unbehagen in den Reihen der Gotteskinder, ja sogar
der Gottesknechte niederen Standes, immer groesser wird und sich die Reihen lichten.
Kannst Du es nun den Aposteln verargen, wenn sie sich dieses Leitmotiv auch zule-
gen? Und, wenn schon, nur von Lob etwas hoeren moechten (das tut der Seele gut),
aber auf ja keinen Fall von Tadel? Oder wenn Du gar am Altar Gottes sagst, das Wort
"Kritik" komme in der Heiligen Schrift nicht vor (und damit das Volk Gottes indirekt
beluegst). Wen wunderts, wenn nun kein Apostel von Kritik an der eigenen Person et-
was hoeren will? Sie koennen ja tun und lassen, was sie wollen, es ist immer Apostel-
lehre (in einem Wort) und braucht sich mit Jesulehre nicht zu decken. Der Apostel hat
immer recht! Und dann, wenn sich trotzdem mal jemand getraut, Kritik anzubringen,
dann sind das - nach Deinen eigenen Worten am Altar Gottes - Besserwisser und
Neunmalkluge. Ist das die Hochachtung, die Du als Stammapostel treuen und be-
sorgten Geschwistern und Amtstraegern entgegenbringst? Mit Deiner Wortwahl soll-
test Du vorsichtiger werden. Manches erregt Anstos. Lass Dir das nun bitte einmal ge-
sagt sein. Oder meinst Du etwa, als Du in Aarau "von der anderen Sau" gesprochen
hast, die "morgen die Dorfstrasse hinunterrennt", das waere aus dem Heiligen
Geist gewesen. Das sind saloppe, deplazierte Sprueche aus dem persoenlichen Reper-
toir Richard Fehrs! Wenn ich Dir raten darf: Hoer bitte auf damit. Du schadest Dei-
nem Ansehen hoechstpersoenlich selbst sowie den Stellenwert des Stammapostels!
Du haettest besser getan, mit etwas mehr Substanz auf das Problem zuzugehen.
Es scheint mir, lieber Richard, dass Du in einer ganz anderen Welt lebst, ja dass Du
die Probleme an der Basis des Werkes Gottes kaum mehr wahrnimmst. Wir realisie-
ren leider, dass Dich diese Probleme unbekuemmert lassen, und genau das bekuem-
mert uns und loest, je laenger je mehr, Reaktionen aus.
Dieser Tage hat Bezirksapostel Dessimoz, wie schon einige Jahre zuvor, wieder einen
Appell fuer die Entrichtung eines Sonderopfers verlesen lassen. Noch nie wie jetzt ha-
ben Geschwister offen von einem "Bettelbrief" gesprochen. Wenn die Geschwister
nun aber noch wuessten (Konjunktiv), wie andererseits Opfergelder verschleudert wer-
den und wie Du selbst als Stammapostel mit Deiner Hand breitgefaechert in den Opfer-
stock langst und Dir eine Honorierung herausholst von zweifelhafter Hoehe, etc, dann
muesstest Du Dich, ob Du willst oder nicht, auf Reaktionen gefasst machen, die Dir ver-
mutlich unangenehmer sind, als meine offenen Worte, die ich als Freund an Dich richte
und mich dabei voll auf Deine Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit verlasse. Andernfalls haet-
test Du Dich sehr veraendert.
Also, es bleibt dabei, ich wuensche von Dir, das heisst, ich verlange es von Dir, dass
Du Dich mir gegenueber in schriftlicher Form vernehmen laesst, ob Du bereit bist - bzw
nicht bist -, Rechenschaft ueber Dein Handeln abzulegen, und zwar genau in dem Sinne,
wie ich es Dir am 4.9.1996 geschrieben habe. Wenn Du ein unverletzt Gewissen hast
gegenueber jedermann, wird Dir das verlangte Bekenntnis keinerlei Probleme machen.
Je mehr Du Dich aber dagegen straeubst, um so unguenstiger wird Deine Ausgangslage.
Ich strebe einen persoenlichen schriftlichen Dialog mit Dir an, aber nur mit Dir. Und
wenn Du dies nicht willst, dann gebe ich mein "Elaborat", wie Du Dich so schoen und ge-
waehlt ausdrueckst, in Zirkulation. Es wird eine Wand von entruesteten Amtstraegern
(und deren Gattinnen) auf Dich zu kommen. Wenn es sein muss, kann ich die Analyti-
sche Expertise samt Begleitbrief (und einiges mehr) auch der Opposition in Stuttgart
uebergeben oder gar der Presse. Dann wirst Du aus dem beantworten von sehr kriti-
schen Fragen nicht mehr herauskommen. Aber all dies will ich nicht, weil es m.E. fuer
das Werk Gottes kontraproduktiv waere. Ich betrachte Dich nach wie vor als meinen
Freund und Vorangaenger, dem ich es schuldig bin, auf Fehler aufmerksam zu machen.
Wie Du jetzt bist, darfst Du nicht bleiben. Es muessen innerhalb der Kirche, insbeson-
dere im Denken der Kirchenleiter, grosse Veraenderungen stattfinden. Ich bin bereit
und opfere meine Zeit, um mit Dir mehrer anstehende Probleme zu diskutieren (natuer-
lich immer nur auf dem schriftlichen Wege).
In diesem Sinne erhoffe ich mir einen erspriesslichen Schriftwechsel in Sinn und Geist
Jesu. Da Du der Juenger bist, bzw sein solltest, mit der groessten Liebe zu Jesu, zu Dei-
nen Bruedern und zu seiner Herde, dann sollte es auch ein schoener Briefwechsel wer-
den. Andrenfalls haette ich mich getaeuscht.
Damit Du etwas besser weisst, welches Gedankengut mich beseelt (das sind Deine
Worte), lege ich Dir zwei Briefe bei, die beide erst nach meinem Brief vom 4.9.1996
geschrieben und versandt wurden. Der eine ist ein Traumgesicht einer Schwester vor
dem letzten Entschlafenen-Gottesdienst und der andere stammt von der Dirigentin un-
seres allerersten gemischten Chores in Odessa, Schwester Veronika Gortschakowa
(Professor und Dekan). Bitte beachte, dass sie schreibt, niemand haette sie seit Hauris
und Erwins Ruhesetzung besucht. Sie war auch 1994 vier Wochen im Spital zur Ab-
klaerung. Niemand hat sie besucht! Sie ist spaeter als Dirigentin unseres Chores ersetzt
worden; sie weiss heute noch nicht warum.
1994 war ich mit meiner Familie auf Einladung von Professor Dr.med. Johann Goerzen
in Odessa. Meine Frau und ich haben aus eigenem Beduerfnis einige treue Geschwister
besucht. Schwester Inessa, die uns seinerzeit einen Saal fuer die Gottesdineste zur Ver-
fuegung gestellt hat, ist seit einem Jahr nicht mehr besucht worden. Andere Geschwister,
denen wir einige Liebesgaben via Vorsteher zukommen lassen wollten, sind in der Zwi-
schenzeit nach Deutschland ausgewandert, ohne dass es der Vorsteher vorher gemerkt
hat, und, und, und. Es gaebe einen langen Brief, wenn ich Dir alles schreiben wollte, was
nicht mehr vorkommen duerfte und wo die Schwergewichte gesetzt werden sollten.
Lieber Richard, Du hast es nur in der Hand, welchen Weg Du einschlagen willst. Ich er-
warte Deinen Bericht innert 14 Tagen.
Mit lieben Gruessen, Dein
(gez.) Erwin
Beilagen:
Brief vom 9.9.1996 von Sr. Gortschakowa, via London
Brief vom 10.9.1996 und "Traumgesicht"
Meine Antwort vom 12.9.1996 an Sr. Beikirch
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