Brief (23.7.1960) von Ap. Kuhlen an Br. Schreckenberger.

(publiziert in "Der Herold", Halbmonatsschrift zur Pflege apostolischen Glaubens, Nr. 23,
Sechster Jahrgang, 1. Dezember 1960, Seiten 188-190)

Duesseldorf, 23. Juli 1960

Lieber Bruder Schreckenberger!

Heute erhielt ich Ihren Brief mit beigelegter Briefabschrift des von Ihnen an Herrn
Friedrich Bischoff, Frankfurt am Main, gerichteten Schreibens. Ich habe Ihre Ausfuehrungen
mehrmals sehr aufmerksam gelesen und versichere Ihnen, dass ich alles, was Sie zu der
gegenwaertigen Situation in der Neuapostolischen Kirche sagen, von ganzem Herzen unter-
streiche.

Sie duerfen ueberzeugt sein, dass es uns jetzt nicht darum geht, darauf zu pochen, dass
wir recht behalten haetten; vielmehr stehen wir erschuettert vor der Tatsache, dass die
leitenden Maenner der neuapostolischen Kirche den tiefen Ernst der Lage entweder nicht
sehen oder ignorieren wollen; jedenfalls aber mit einer Oberflaechlichkeit ohnegleichen
darueber hinwegzutaeuschen suchen.

Gott hat ganz sicher den Tod des Stammapostels auch den neuapostolischen Aposteln noch
einmal als einige gnaedige Heimsuchung zur Busse und zur Rueckkehr zur ersten Liebe
dienen lassen wollen. Ich bin ueberzeugt, dass Jesus hierzu das gleiche sagt, wie einst zu
den Jerusalemsbewohnern: "Ich habe euch versammeln wollen wie eine Henne ihre Kuech-
lein unter ihre Fluegel; aber ihr habt nicht gewollt, es ist vor euren Augen verborgen."

Sicherlich verstehe ich gut, dass es vom menschlichen Standpunkte gesehen ungeheuer
schwierig ist, vor der grossen Menge einzugestehen, geirrt, ja die Unwahrheit verkuen-
digt zu haben. Aber, lieber Bruder, duerfen hier diplomatische Ueberlegungen sprechen,
wie man wohl am besten die Masse behaelt, oder geht es um die Wiederfindung der rechten
Stellung zum Herrn? Seien Sie fest ueberzeugt, dass wir solche Entwicklung, wie solche
jetzt in Erscheinung tritt, aeusserst schmerzlich empfinden und vom ganzen Herzen gerne
dazu beigetragen haetten, dass solches verhuetet worden waere. Aber bereits bei seiner
Antrittsansprache als neuer Hauptleiter der Neuapostolischen Kirche hat dieser schroff
jede Diskussion mit den Gegnern (so nennt man uns lieblos) abgelehnt. Und in nachfol-
genden Tagen bis heute ist ueberall in neuapostolischen Gottesdiensten dieselbe Abwei-
sung, ja Hassgesang zu hoeren. Wohin soll das wohl fuehren?

Am 10. Juli 1960 hatten wir hier in Duesseldorf nahezu 600 Amtsbrueder beisammen. Dort
habe ich etwa folgendes erklaert: "Wir Apostel der Apostolischen Gemeinschaft sind zu
einer Aussprache, die eine Wiedervereinigung zum Ziele hat, bereit, vorausgesetzt, dass
es moeglich ist, in bruederlicher, aber offene Art ueber alles das zu sprechen, was zu
einer gruendlichen Bereinigung gewisser Dinge notwendig ist, und unter der Voraussetzung,
dass die Lehre wieder auf den alten Grundwahrheiten basiert und auf biblische Wahrheiten
zurueckgefuehrt wird. Keinesfalls darf es zu einem blossen Ueberlackieren und nur formel-
len Vereinigen fuehren, sondern es muss dann zu einer wirklichen, vor Gott zu verantwor-
teten tiefinnerlichen, auf Gottesfurcht und Bruederlichkeit beruhenden Einigung kommen."

Mit Erschrecken aber sehen wir, dass man zu einer solchen Annaeherung absolut nicht wil-
lens ist, ja darueber direkt hoehnt.

Wenn schon eine solche Katastrophe, wie sie durch des Stammapostels Tod gekommen ist
und wodurch einfaeltiger, frommer Kindesglaube bei Unzaehligen zerstoert worden ist,
noch nicht zur inneren Einkehr bei den fuehrenden Maennern der Kirche leitet, sondern mit
neuen, ebenfalls ungoettlichen Argumenten operiert wird, um ja nicht gestehen zu muessen,
vor Gott und der Gemeinde gefehlt zu haben, dann kann man nur mit Schrecken an den
sicheren, nahen Untergang der einst so bluehenden neuapostolischen Gemeinde denken.

Es ist unsagbar traurig, dass man jetzt (anscheinend ohne sich zu schaemen) fleissig
predigt: Die in den letzten Jahren verkuendete "Botschaft" sei vom Herrn gewesen, der
Stammapostel habe nicht geirrt, sondern GOTT haette sein Plan geaendert. Und zum
Beweis, dass Gott seinen Plan geaendert habe, werden zahlreiche Beispiele aus der Bibel
angefuehrt (uebrigens alle aus dem alten Testament), wonach auch frueher schon der liebe
Gott solche Aenderung seines Planes vorgenommen haette. Am letzten Sonntag wurde all-
gemein gepredigt, dass der Herr bei dem Zwiegespraech mit Abraham, wo es um Sodom und
Gomorrha ging, in aller kuerze seinen Plan siebenmal geaendert habe, als er naemlich
erst dann die Stadt habe verschonen wollen, wenn 50 Gerechte darin seien, dann aber nach
und nach seinen Plan soweit geaendert haette, dass er das Strafgericht bei nur 5 Gerechten
in der Stadt abwenden wollte.

Ist das nicht eine Verdrehung der Dinge? Wir koennen in der Heiligen Schrift zahlreiche
Beispiele lesen, dass Gott einem Volk oder einem Menschen ein Strafgericht angedroht
hatte, dieses aber gnaedig abwandte, wenn das Volk oder der Suender Busse tat, Umkehr
und Einkehr hielt und um Gnade flehte. In solchem Falle galt immer das Wort des
Herrn: "Ich will nicht den Tod des Suenders, sondern dass er sich bekehre und lebe."

Aber noch nie hat der treue Gott eine Segensverheissung zurueckgezogen, wenn solche
seinem Volke gegeben war. Das ganze Neue Testament fundiert auf dem Begriff
der Treue Christi zu seinem Wort und der Treue der Braut des Herrn zum
Seelenbraeutigam
.

Wenn uns Christi Wort und Verheissung nicht mehr als unumstoesslich gewiss gilt, wo sollen
wir dann noch halt finden? Wenn man eine jahrelang verkuendete "Verheissung des Herrn"
als hinfaellig betrachtet mit dem Bemerken, dass der Herr seinen Plan geaendert habe,
dann fragt man sich: Welches Wort Christi wird denn zukuenftig noch als verlaesslich
gelten? Welche Verheissung des Herrn kann dann wohl noch geaendert werden? Welchen
Plan, den der Herr hinsichtlich seines Volkes hat, wird er spaeter etwa noch aendern?

Wer also lehrt, dass Gott seinen Plan geaendert habe, wo in Wirklichkeit Gottes Plan
niemals gewesen ist, zur Lebzeit des Stammapostels Bischoff die Brautgemeinde Christi
heimzuholen (denn sonst haette er das sicher getan), der nimmt den Glaeubigen das Fun-
dament unter den Fuessen weg. Dazu kann der Herr niemals Ja sagen.

Gerne bin ich bereit, baldigst mit Ihnen und mit andern Bruedern und Geschwistern, die
mehr Gottesfurcht als Menschenfurcht haben, eine Aussprache zu haben. Schreiben Sie mir
doch bitte, wie Sie dazu denken.

Es gruesst Sie in der Liebe Christi

Ihr (gez.) Peter Kuhlen

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